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Archiv-Artikel

Gabi kommt

AUS LÜBBENAUBARBARA BOLLWAHN UNDHANS-PETER STIEBING (FOTOS)

Morgens um sieben fährt Schwester Gabi ihre Patienten hoch. Sie braucht dazu keinen Rollstuhl, auch keinen Fahrstuhl. Nur etwas Fingerspitzengefühl. Ihre Patienten bekommen es nicht mal mit. Die Gemeindeschwester aus Lübbenau im Spreewald fährt mit dem elektronischen Stift über ihr PC-Tablett, nach wenigen Sekunden hat sie alle Daten auf dem Schirm.

Der Raum im Medizinischen Zentrum der brandenburgischen Kleinstadt, in dem sie um diese Uhrzeit sitzt, ist weiß und karg. Aufgepeppt wird er von einer Arzneimittelwerbung für Johanniskraut: Auf einer knallgelben Serviette steht „Sonne für die Seele“. Zweiter Gemütsaufheller ist Gabis Kaffeetasse. Darauf ist eine blonde Krankenschwester zu sehen mit üppigem Dekolleté, die einem Patienten den Blutdruck misst und so sein Herz zum Rasen bringt. „Man muss Spaß bei der Arbeit haben“, lacht Schwester Gabi. Auch sie hat üppige Kurven. Aber keine blonden Haare, ihre sind schwarz mit weinroten Strähnchen. Der weiße Kittel ist bis auf den obersten Knopf geschlossen.

Gemeindeschwester Gabriela Marx ist für ihre Patienten ein Gemütsaufheller. Sie sind alt und krank, leiden unter Bluthochdruck, Arthrose, Inkontinenz, Demenz. Sie haben Herzschrittmacher, Blutgerinnsel, Druckgeschwüre vom Liegen, psychische Probleme. Der Weg zum Arzt für regelmäßige Kontrollen ist ihnen nicht oder nur mit großem Aufwand möglich: Im strukturschwachen Brandenburg sind über hundert Hausarztpraxen unbesetzt. Um den überlasteten Medizinern Routine-Hausbesuche zu ersparen, fahren Frauen wie Schwester Gabi über Land. Sie nehmen Blut ab, messen Blutdruck und Zuckerwert, wechseln Verbände oder prüfen die Medikamentenverträglichkeit. Und sie tun etwas, was kein Arzt und kein Pflegedienst als Leistung abrechnen kann: Sie hören zu, trösten, muntern auf. Auch für die Allgemeinärztin, der Schwester Gabi zuarbeitet, ist das eine Erleichterung. Bei 1.700 Patienten pro Quartal kann sie nicht regelmäßig zu allen fahren.

Agnes ist zurückgekehrt

Mit ihren 42 Jahren ist Schwester Gabi schon ein Relikt aus alten Zeiten. Sie ist eine von drei Krankenschwestern und sieben Ärzten im Spreewaldkreis, die einem verschwundenen Beruf in einem Modellprojekt zur Wiederauferstehung verhelfen: dem der Gemeindeschwester. Die gab es zu DDR-Zeiten in jedem größeren Dorf. Mit der Rotkreuzhaube auf dem Kopf und in gestärktem weißen Kittel tuckerten sie über die Dörfer, unter dem Hintern ein Moped, in der Schwesterntasche das „Tagebuch der Gemeindeschwester“. Sie kümmerten sich um Alte, Kinder, junge Mütter und führten Buch über Rückschläge und Fortschritte in der Pflege. In den Siebzigerjahren wurde ihnen gar eine Fernsehserie gewidmet: „Schwester Agnes“.

Mit der Wende wurden die Gemeindeschwestern entlassen. Sie passten nicht in die Finanzierungskonzepte der ambulanten Pflege im Westen, die landesweit 5.500 Stationen wurden geschlossen.

Nun ist Agnes zurück, das Modellprojekt in der Lausitz trägt sogar ihren Namen. „Agnes“ steht für „arztentlastende, gemeindenahe, E-Health-gestützte, systemische Intervention“. Auch wenn Schwester Gabi als sogenannte Tele-Gesundheitsschwester mit Telefon, Auto, PC-Tablett und Internetverbindung – bald auch einer Webcam – ihre Vorgängerin technisch in den Schatten stellt, können Patienten im Osten mit dem Namen etwas anfangen.

Um zehn nach halb neun verlässt Schwester Gabi ihr Büro. Es liegt in einer ehemaligen Poliklinik, in der immer noch Allgemeinärzte, Internisten, Gynäkologen, Chirurgen, Logopäden und eine Laborgemeinschaft unter einem Dach arbeiten. Sie verstaut ihren schwarzen Rollkoffer „traveller“ im Kofferraum und setzt sich hinters Steuer. Es ist ihr Privat-Golf, für den sie Kilometergeld bekommt. Das Plastikschild „Schwester Gabriela Marx, Modellprojekt Gemeindeschwester“ wippt an ihrem weißen Kittel. Sie beginnt ihre Tour mit einem Schwesternwitz: „Kein Puls, kein Ton, hier war’n wir schon.“ Jetzt kann’s losgehen.

Sieben Minuten später parkt sie neben dem Spreewaldmuseum in der Altstadt von Lübbenau. Von hier aus zieht sie ihren Koffer über eine kopfsteingepflasterte Gasse. Sie läuft an einem schiefen Fachwerkhaus und Apfelbäumen vorbei, hinter denen einer der unzähligen Spreewaldkanäle fließt. Es geht über eine Holzbrücke, durch ein Wäldchen und eine Gartenanlage mit fetten Rüben und saftigen Wiesen. Fünf vor neun Uhr wird sie in einer Haustür am Ende des Weges von ihrer Patientin begrüßt. „Ach, die Dame in Weiß.“

Die 78-jährige Frau wirkt fit. Aber das täuscht. Sie ist demenzkrank, hat Diabetes, Arthrose, hohen Blutdruck und Osteoporose, einmal im Monat braucht sie Blutverdünnungsmittel. Schon der Weg mit dem Rad bis vor zur Brücke fällt ihr schwer. Die Beine wollen nicht mehr. Sie führt Schwester Gabi in die Veranda. „Der Quickwert war das letzte Mal ein bisschen runter“, sagt Schwester Gabi. Er gibt den Blutgerinnungswert in Prozent an. „Deshalb hat Frau Doktor gesagt, so schnell wie möglich noch mal messen.“ Die Patientin nickt. Auch ihr Mann, der den Kopf reinsteckt, ist einverstanden. „Dann machen Sie mal.“

Zwei nach neun misst Schwester Gabi den Blutdruck. 130:80. „Wie bei einer jungen Frau“, sagt sie und trägt den Wert in ihren Computer ein. „Das ist aber auch das Einzige, das hinhaut“, antwortet die Patientin und versucht ein Lachen. Fünf nach neun nimmt Schwester Gabi Blut aus dem rechten Ohr ab, für den Zuckerwert. Neun nach neun ist der Quickwert dran. Zwölf nach neun will sie einen Test machen, sie will sehen, wie vergesslich die Patientin ist. Sie soll in einen Kreis die Uhrzeit einzeichnen. Die Frau nimmt den Stift und sitzt ratlos vor dem Blatt. „Das wird nichts. Ich vergesse so viel.“ Schwester Gabi tröstet sie, fragt nach den Beinen, nach dem Ausflug mit den Kindern. Nach zehn Minuten fällt der Patientin ein, dass die 12 oben sein muss.

Halb zehn ist Schwester Gabi fertig. Sie verspricht, anzurufen, wenn sie den Quickwert hat. Die Patientin schenkt ihr Äpfel aus dem Garten und steht winkend in der Tür. „Bis bald in alter Frische!“, ruft Schwester Gabi zum Abschied.

Das Modellprojekt ist für Gabriela Marx eine Reise in Vergangenheit und Zukunft zugleich. Denn schon früher war sie Gemeindeschwester, war zu Fuß oder mit dem Moped unterwegs und hielt Dorfsprechstunden ab. Wenn sie damals telefonieren wollte, musste sie zur Post oder zum Dorfladen. Statt eines Computers hatte sie das Tagebuch, in das sie die Leistungen in lange Spalten mit Buchstaben von A bis U eintrug. A stand für Krankenbesuch, G für Hilfe bei Unglücksfällen, K für Mütterberatung, M für Verbände, T für Sprechstundenberatung, U für besondere Leistungen. Ihre letzten Einträge stammen vom März 1990. „Die Gemeindeschwester jetzt ist Schwester Agnes auf modern“, sagt Schwester Gabi. „Für mich ist das das Schönste überhaupt.“

Viertel vor zehn fährt sie ins Labor. Als sie an der Praxis ihrer Ärztin vorbeikommt, macht sie keinen Halt wie sonst. Die Medizinerin ist krank. Schwester Gabi wird später die Werte einer Mitarbeiterin der Praxis durchtelefonieren. Und zusätzlich die Daten per Computer nach Greifswald schicken. Dort nämlich sitzt das „Institut für Community Medicine“ der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, das das Projekt wissenschaftlich begleitet und mit 50.000 Euro bezuschusst. Den Großteil der Finanzierung, 300.000 Euro pro Jahr, übernehmen der Europäische Sozialfonds und das Gesundheitsministerium in Potsdam. Mit „Agnes“ soll herausgefunden werden, ob Gemeindeschwestern in ländlichen Gebieten den Ärztemangel abfedern und die hausärztliche Versorgung unterstützen können. Im vergangenen Jahr gab es das erste Projekt auf der Ostseeinsel Rügen. Weitere Bundesländer haben bereits Interesse angemeldet.

„Mich betreut sie mit“

Der zweite Patient, bei dem Schwester Gabi um sieben vor zehn eintrifft, liegt im Wohnzimmer auf seinem Sofa. Über ihm an der Wand hängen Plastikblumengestecke, auf der Fototapete mit der Skyline von New York stehen die Zwillingstürme noch. Vor wenigen Monaten musste dem 68-Jährigen der linke Unterschenkel amputiert werden. Täglich wechseln entweder Schwester Gabi oder der Pflegedienst den Verband, der Mann bekommt eine silberhaltige Salbenkompresse, damit die verpflanzte Haut gut anwächst. „Und mich“, sagt seine Frau, „kann sie gleich mit betreuen, wenn ich mal Sorgen habe.“ Heute bittet sie Schwester Gabi, die Untersuchungsberichte des Gefäßchirurgen anzufordern und an die Hausärztin schicken zu lassen. Schwester Gabi klärt noch schnell den Termin für die nächste Messung des Quickwertes. Acht vor halb elf verabschiedet sie sich und bricht auf nach Zerkwitz.

Dort, wenige Kilometer entfernt, wohnt ein 90-Jähriger zusammen mit Sohn, Tochter, Schwiegertochter und Enkelkindern auf einem Hof. Der Patient hat einen Herzschrittmacher, Bluthochdruck und Niereninsuffizienz. Schwester Gabi misst den Blutdruck und will nun auch den Uhrentest machen. „Wollen wir den Opa mal was malen lassen?“, fragt sie die Enkelkinder. Die nicken begeistert. Aber der Opa, eine gepflegte Erscheinung mit grauem Stoffhut, schüttelt energisch den Kopf. „Opa ist stur“, sagt er und stützt sich auf seinen Gehstock. Schwester Gabi drängt ihn nicht. Auch das Thema der Inkontinenzwindeln spricht sie heute nicht an, die Enkel müssen nicht alles mitkriegen.

Schwester Gabi ist überzeugt von der Idee der Gemeindeschwester: „Da ist der Patient nicht nur eine Nummer wie in der Pflege.“ Ellen Fährmann, die in Brandenburg den „Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste“ vertritt, hört solche Sätze gar nicht gern. Sie nennt das Projekt „überflüssig und überholt“. In Brandenburg würden sich schon heute 530 ambulante Pflegedienste um die Patienten kümmern.

Neeltje van den Berg, die das Projekt an der Uni Greifswald auswertet, kennt diesen Schlagabtausch. „Es geht um den Sicherstellungsauftrag der hausärztlichen Versorgung“, sagt sie. „Aber natürlich werden wir damit nicht das Problem des Ärztemangels lösen.“ Wo die Gemeindeschwestern später angesiedelt werden, ist noch nicht klar. Dieser Tage soll ein Lenkungsausschuss mit Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigung, der Ärzte- und Apothekerkammer und der Pflegedienste gegründet werden, um genau darüber zu beraten. Dass die Verhandlungen nicht leicht werden, weiß auch Neeltje von den Berg. „Die Pflegeverbände haben Angst, dass ihnen was weggenommen wird.“

Schwester Gabi hat bis zu ihrer Wiedergeburt als Gemeindeschwester bei einem freien Träger in der häuslichen Krankenpflege gearbeitet. Als sie wechseln wollte, hat der ihr nicht gekündigt, sondern sie erst mal freigestellt. Das freut sie. Sie will nicht im Akkord pflegen. Sie will für ihre Patienten da sein.