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Archiv-Artikel

Einstein junior

Die gehobene Mittelschicht in den USA hat ihre Kinder als Kapitalanlage entdeckt. Eltern investieren in die Frühförderung und hoffen auf eine saftige Rendite: Wer mit drei lesen kann, wird bestimmt später mal Harvard-Professor oder Topmanager

Vom „Mozart“-Effekt besessene Eltern beschallen den Fötus mit einem Kopfhörer auf dem Bauchder Schwangeren

AUS WASHINGTONADRIENNE WOLTERSDORF

Geld spielt bei Hollywood-Star Gwyneth Paltrow nur die Nebenrolle – erst recht, wenn es um ihre Kinder Apple Blythe und Moses geht. Paltrow wollte ihren kleinen Moses schon verwöhnen, bevor er überhaupt da war. Einige Wochen vor der Geburt wurde sie in einem Geschäft in Los Angeles gesichtet, wo sie für mehr als 16.000 Euro Babyklamotten und Spielzeug kaufte. Mittlerweile ist Moses über zwei Jahre alt, trägt Höschen und Hemdchen von Dior und Burberrys. Und was ein junger Mann seines Standes eben sonst noch alles so braucht zum happy sein.

Aufgeschreckt durch Psychologen und Bücherregale voller Eltern-Ratgeber, wünschen sich vor allem Eltern in den USA immer mehr Spezial-, Früh-, Vorschul- und IQ-Förderungen für ihren Liebling. Doch nicht nur mit dem Kopf muss das meist spät gezeugte Wunschkind brillieren. Auch das richtige Outfit wie Marken-Lätzchen, Designer-Fläschchen und sogar Kinder- Hometrainer gehören längst in jedes Mittelstandskinderzimmer. Und wenn John oder Joanna nicht schon mit einem Jahr laufen oder sprechen können, muss die Pädagogik-Kassette her oder besser gleich: die Kinderpsychologin.

Eine Förder- und Wohlfühl-Industrie rund ums liebe Kind ist in den Reichtumsoasen unseres Planeten herangewachsen, allen voran in den Vereinigten Staaten. Zahllose Unternehmen haben es sich dort bei hohen Gewinnmargen gern zur Aufgabe gemacht, willigen Mamis und Papis das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wer bis zur Schwangerschaft glaubte, ein Kinderwagen sei ein praktisches Gefährt auf vier Rädern, wird schnell eines Besseren belehrt. Bereits hier geht es um NASA-getestete Hightechkonstruktionen, um Jogger Stroller mit ergonomisch verstellbaren Luftkissen und um Preise in der Kategorie eines Gebrauchtwagens. Mit Alete- oder Milupa-Grundausrüstung ist jenseits des Atlantiks nicht zu punkten. Wer das Beste für seinen kleinen darling möchte, leistet sich besser das Dior-Nuckelfläschchen für knapp 200 Euro oder den Kashmere-Strampelanzug von poshtods für 500 Euro. Wer so viel in das eigene Genmaterial investiert, möchte meist auch Rendite. Und zwar, wie in der schnellebigen US-Kultur üblich, sofort. Mit sechs Monaten die Windel ablegen, mit drei Jahren lesen lernen: Von amerikanischen Kids wird immer früher immer mehr verlangt.

Sean, Ende 30, Jurist im US-Justizministerium, dreht sich um zu seinem Sohn und fragt: „Hey, Finnian, kannst du lesen, was da rechts auf dem Schild steht?“ Finnian sieht sich das Schild genau an, er braucht etwa drei Sekunden, dann sagt er langsam: „Recycling“ Die Antwort ist richtig. „Good job!“, lobt der Daddy, der mit Finnian auf dem Weg zum Tag der offenen Tür der Mülldeponie ist.

Finnian ist drei Jahre alt und kann schon lesen. Etwas holprig noch, aber etwa so schnell wie ein normaler Schüler am Ende der ersten oder zu Beginn der zweiten Grundschulklasse. Ein gleichaltriger Spielkamerad neben ihm, der verträumt am Fläschchen nuckelt, kann noch nicht einmal richtig bis fünf zählen. Laut Pädologie, der Wissenschaft vom gesunden Kind, ist er völlig normal. Selbst Finnian ist kein seltenes Wunderkind oder ein Fall für die Wissenschaft. Vielmehr liegt der Kleine mit seinem Können im Trend amerikanischer Kinderzimmer. Denn in der upper middle class, also in Familien wie der von Sean, mit gut verdienenden, akademisch gebildeten Eltern, ist es fast schon die Regel, dass man dem Nachwuchs bereits im Kindergartenalter das Lesen beibringt. Von Los Angeles bis New York paart sich zudem elterlicher Ehrgeiz mit der Angst, das Kind nicht früh genug für den Wettbewerb des Lebens trainiert zu haben. Die brennende Hoffnung, einen zukünftigen Harvard-Professor gezeugt zu haben und eine omnipräsente aggressive Werbung zur didaktischen Aufrüstung tun ein Übriges, dass Eltern immer höhere Ansprüche entwickeln.

Die Idee, zum Besuchstag der Mülldeponie zu fahren, hatte übrigens nicht etwa Vater Sean, sondern Finnian selbst. „Er hat die Ankündigung im Internet gefunden“, erzählt Sean lässig. Im Internet? Ja, eine Stunde pro Tag, so Sean, darf der Dreijährige im Netz surfen: Die Kinderseite des „guten“, weil öffentlichen Fernsehsenders PBS ist seine Startseite im Web.

Der Boom der Frühförderung von Kindern begann in den USA Mitte der Neunzigerjahre. Seitdem schwärmen Eltern von bilingualen Krabbelgruppen oder verzweifeln, wenn Töchterchen oder Söhnchen nicht schon mit einem Jahr die Grundvoraussetzungen einer späteren Unternehmerpersönlichkeit erkennen lassen. Die Eliten-Industrie erwartet daher auch in den kommenden Jahren kräftigen Zuwachs, denn noch sei das Potenzial der zahlenden Mittelschicht nicht ausgereizt, schwärmen die Anbieter von Didaktik-Videos und Betreiber von Spezialkindergärten.

Ausgelöst wurde die Ehrgeiz-Welle durch den zunehmenden Verfall des amerikanischen Bildunssystems sowie die im Wochenrhythmus erscheinenden Erziehungsstudien. Die zeigen auf, mal begeistert, mal kritisch, was Kinder im Vorschulalter bereits alles lernen könnten, wenn man sie nur ordentlich trainierte.

Damit das nicht einfach dem Zufall oder der Inspiration der Eltern überlassen bleibt, sind auch einzelne Bundesstaaten in den USA auf den rollenden Zug aufgesprungen. So erhalten zum Beispiel Mütter im US-Bundesstaat Georgia gleich nach der Entbindung auf Staatskosten eine DVD mit einem Baby-Lernprogramm geschenkt.

Ob das alles wirklich richtig ist, wissen auch die überforderten Eltern nicht so genau. „Wenn es alle machen, macht man es natürlich auch. Man will ja nicht schuld daran sein, dass das eigene Kind vielleicht was verpasst“, sagt eine Mutter, die ihrer Tochter die „Baby Einstein“-Videos vorgespielt hat, als sie gerade sechs Wochen alt war. Didaktische Videos wie die in den USA weithin bekannte „Baby Einstein“-Serie von Disney versprechen wertvolle Lernfortschritte für Kinder, die noch nicht einmal laufen können. Mit sechs Monaten sitzen daher viele Säuglinge schon täglich vor dem Fernseher und werden mit Bildern aus der Welt der Astronomie und Klängen von Mozart und Bach berieselt, die ihrem kleinen Hirn angeblich frühe Entwicklungssprünge bescheren sollen. 42 Prozent aller Kinder unter zwei Jahren, so die offizielle Statistik, sehen in den USA täglich ein didaktisches Video.

Zweifellos ist der Vorsprung, den Kinder wie Finnian später in der Schule gegenüber denen haben, die einfach weiter ihre Windeln vollmachen dürfen und nur herkömmliche Kindergärten besuchen, eklatant. „Die ersten Jahre sind unglaublich kostbar“, weiß Eric Smith, Schuldezernent in der Region um Washington D.C., „wenn man die nicht richtig nutzt, kommen die Kinder schlecht vorbereitet in die Schule und sind schon mit sechs oder sieben Jahren so frustriert, dass sie nie mehr gute Schüler werden“. Angesichts derartiger pädagogischer Panikmache ist es nur logisch, dass Eltern das systematische Lernen so früh wie möglich angehen wollen.

Der neueste US-Hype im Kinderland ist eine Methode, die es ermöglichen soll, auf Windeln schon sehr früh zu verzichten. Babys sollen vom ersten Tag an lernen, die Toilette zu benutzen und sich bei dem entsprechenden Bedürfnis per Zeichensprache bemerkbar zu machen. Bei erfolgreichem Training, so verspricht die Initiative „Das windelfreie Kind“, könne das Kind mit etwa vier bis sechs Monaten zuverlässig „trocken“ sein, auch nachts. Das Ratgeberbuch, das die neue Trainingsmethode erklärt, ist – wen wunderts?! – ein Bestseller.

„Mit dem ganzen Babykram von früher muss Schluss sein“, fordert André Hornsby, Kindergarten- und Schuldezernent im Landkreis Prince George, nördlich der US-Hauptstadt Washington D.C. Spätestens mit vier Jahren, so meint Hornsby, sollten die Kindergartenkids ein ganztägiges und systematisches Lernprogramm absolvieren. Die Leistungen seiner Hochleistungskitas lässt er zweimal im Jahr durch Tests überprüfen. Sein Ziel: Mit fünf, wenn die Kinder in die Vorschule wechseln, sollen sie mindestens einige Wörter schreiben können, außerdem gute Lesefähigkeiten haben und kürzere Texte auswendig lernen können.

Während die meisten Eltern ambitionierte Kinderschmieden wie die von Hornsby begrüßen, debattieren Fachleute und Laien in amerikanischen Eltern-Zeitschriften schon, ob das kindliche Gehirn die entscheidenden Impulse nicht sogar vor der Geburt bekommen müsste. Klassische Musik könne schon in den letzten Schwangerschaftsmonaten das Gehirn des Babys stimulieren, heißt es. Und später zu einem höheren Intelligenzquotienten führen, behaupten einige amerikanische Psychologen und Neurologen.

Andere machen sich inzwischen eher Sorgen. Das Kind im Mutterleib könne Schaden nehmen, zumal sich unter den vom sogenannten Mozart-Effekt besessenen Eltern die Praxis etabliert hat, den Fötus mit einem Kopfhörer auf dem Bauch der schwangeren Frau möglichst direkt zu beschallen. „Viele Eltern übertreiben es“, klagt die Psy- chologin Jante DiPietro in Baltimore. Mit der ständigen Beschallung störten sie den Schlafrhythmus des Kindes, „und der ist vermutlich für die Entwicklung des Gehirns um einiges wichtiger.“