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Archiv-Artikel

Hugo Chávez probt den Rückzug

Venezuela will seine Kandidatur für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat aufgeben, wenn Bolivien als Kompromisskandidat Lateinamerikas antritt. Für die USA und Guatemala kommt das nicht in Frage – und von Konsens kann keine Rede sein

Chávez’ „Teufel“-Rede vor der Vollversammlungwar kontraproduktiv

VON GERHARD DILGER

Mit einem Ausflug in die Weltpolitik hatten die Kleinunternehmer aus El Alto nicht gerechnet, als ihr Präsident vorgestern zur Übergabe von Mikrokrediten anreiste. Doch dann erzählte Evo Morales von einem Anruf aus Caracas: „Da Venezuela die Zweidrittelmehrheit für den Sicherheitsrat nicht bekommen hat, sagt der Compañero Hugo Chávez, dass er auf der Suche nach einem Konsens Bolivien die Kandidatur überlasst.“ Und, als ob er es selbst noch nicht so recht glauben könnte: „Wir sind der Kandidat für den Sicherheitsrat, hoffentlich können wir einen Konsens erreichen. Unsere Botschafter sind in Aktion getreten.“

Damit werden die Karten nach den 35 Abstimmungen der letzten Woche, bei denen Venezuela 34-mal hinter dem US-Kandidaten Guatemala zurückblieb, neu gemischt. Die Außenminister der Region gaben sich jedoch zurückhaltend. Der Guatemalteke Gert Rosenthal deutete an, nach einer „unilateralen Entscheidung Venezuelas“ könne es nun zu einem Rennen zwischen Guatemala und Bolivien kommen. Solange es keinen offiziellen Kompromisskandidaten der lateinamerikanischen und karibischen Staaten gebe, bleibe Washington bei seiner Unterstützung Guatemalas, sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums. Auch Chiles Präsidentin Michelle Bachelet hielt sich bedeckt: „Nach dem vorgesehenen Mechanismus sind die Länder dabei, sich über einen Kompromisskandidaten zu verständigen“, sagte Bachelet vorgestern Abend. Im Gespräch waren bislang Uruguay, Chile, Panama, Costa Rica und die Dominikanische Republik.

Dabei hatte Venezuela am Dienstagabend offiziell noch gar nicht eingelenkt. Während Hugo Chávez in einer zweistündigen Rede das Thema Sicherheitsrat demonstrativ ausklammerte, meldete sich gestern früh Venezuelas Außenminister Nicolás Maduro aus New York zu Wort. „Angesichts der Erpressung des Imperiums, der Manipulation, des Drucks erhalten wir unsere Kandidatur aufrecht“, sagte Maduro. Als „südamerikanisches Land mit einer unabhängigen Stimme“ sei Bolivien aber eine gute Option, sagte Maduro. Zuvor müsse jedoch Guatemala seine Kandidatur zurückziehen.

Ob Hugo Chávez so ein Rückzug ohne Gesichtsverlust gelingt, war gestern fraglich. Die USA nämlich dürften auch eine Wahl Boliviens zu verhindern trachten. Als besonders kontraproduktiv bezeichneten mehrere lateinamerikanische Diplomaten Chávez' Rede vor der UNO-Vollversammlung im September, bei der er US-Präsident Bush als „Teufel“ bezeichnet hatte. Nicht nur der mexikanische UN-Botschafter Enrique Berruga sah dadurch die Grenzen der Vollversammlung überschritten. „So kann man in Lateinamerika reden, und die Leute amüsieren sich“, meinte der US-Politologe Riordan Roett. „Aber in der UNO gibt es eine Tradition des Respekts für das Protokoll, und viele, die sie als Forum für die Anliegen der Dritten Welt betrachten, fanden das gar nicht lustig.“