: Krim-Kaleidoskop
SEHNSUCHTSORT 1991 besuchte unsere Autorin zum ersten Mal die Halbinsel
VON BARBARA KERNECK
Fast eine Stunde war der Lada vom Hauptstadtflughafen Simferopol aus nach Süden gerattert. Bis zum Horizont rötliche Erde, dazwischen spärliche, violettfarbene Gräser. Über Jahrtausende hatten Steppenvölker diese Hoch- ebene im Inneren der multiethnischen Krim-Halbinsel bewohnt. Zuletzt waren es die Krim-Tataren – bis Stalin 189.000 Angehörige dieses Volkes im Mai 1944 auf einem Todestreck in Viehwaggons nach Mittelasien deportierte. Irgendwann zeigte der Taxifahrer nach rechts und sagte: „Bachtschaissaraj“ – in der um 1500 errichteten Residenz der krim-tatarischen Khane war nun ein Museum.
Dann gelangten wir an den Rand des Plateaus und schraubten uns in Serpentinen abwärts, in eine wärmere Klimazone. Der Fahrer kurbelte das Fenster auf – Berg-, Meeres- und Waldluft, auch Heilkräuteraromen drangen ein. Blühende Bougainvilleen und Oleander tauchten im Laternenlicht auf. Dann stoppte der Wagen. Das hohe Tor zum Sanatorium Aj Danijl öffnete sich.
Wir hatten den Monat Oktober 1991. Im August war in Moskau dank des Widerstands der Bürger und Bürgerinnen ein Putsch ewig gestriger Parteibonzen gescheitert. Die große UdSSR zerbröckelte und ich war angekommen in den Roten Subtropen – dem Sehnsuchtsort der Sowjetmenschen.
Ein Kindheitsparadies
„Die Krim, das ist echt ’ne Perle“, so etwa lautet übersetzt der Titel eines Sketches des Satirikers Michajl Soschtschenko über den fabrikmäßig organisierten Urlaub der Werktätigen. Doch seit Katharina die Große 1783 mit Hilfe des legendären Grafen Potemkin die Halbinsel annektiert hatte, entstand hier auch ernste Literatur. Generationen russischer Schriftsteller setzten sich mit den Kriegen um die Halbinsel und mit der erholungssuchenden Gesellschaft auseinander. Sie verwandelten den geographischen Ort in einen literarischen Topos.
In allen Sowjetrepubliken beneidete man Gören, die in einem der berühmten Kinderheime auf der Halbinsel Ferien machen durften. Als Erwachsene wollten sie dann dorthin zurück. Zurück auch in die Kindheit, denn in den Sanatorien wurden sie wieder gefüttert, massiert, ausgefahren und waren für nichts verantwortlich. Am liebsten genossen sie dies nach der Augusthitze, in der so genannten „barchatnyj Seson“, der Samtsaison, wenn die Luft perlte wie Krimsekt und man schon ein Strickjäckchen brauchte. Einzeln reisende EhepartnerInnen kultivierten dann gern einen „kurortnyj Roman“, einen Seitensprung.
Bekanntschaften
Im Pförtnerhäuschen des Sanatoriums Aj Danijl hatte sich ein weiblicher Dragoner im weißen Arztkittel voller bräunlicher Flecken am Empfangstresen wie hinter einer Fleischtheke aufgepflanzt. Diese Administratorin weigerte sich, ein junges Paar in die dicke Gästekladde einzutragen. Der gut aussehende Mittdreißiger stammte aus Moskau und gab seinen Beruf als „Bisnessmen“ an. Die Frau – schlichter weißer Trenchcoat, seidenglänzender schwarzer Pagenkopf – aus Kischinau in Moldawien. Dort bahnte sich gerade ein Krieg mit russischen Separatisten an. Und die beiden wollten – oh weh – ein gemeinsames Zimmer.
„Statt in Ihrem dreckigen Kittel Moralpredigten zu halten, sollten Sie hier lieber zügig die Gäste bedienen!“, beschied ich der Frau. Mir war nach einem Duell. Sie aber wurde ganz ruhig und trug das Pärchen ein. „Mein Kittel ist nicht schmutzig“, erklärte sie leise. „Wir waschen sie ständig. Aber wir konnten schon jahrelang keine neuen anschaffen. Haben Sie besondere Wünsche?“ „Ja, im Speisesaal einen Tisch für mich alleine!“ Das ging in Ordnung.
Trotzdem kommunizierte ich bisweilen mit der schönen Dame aus Kischinau. Wir beide schwammen nämlich als einzige Gäste im schon unruhigen Meer. „Haben Sie keine Angst vor einem Bürgerkrieg in Moldawien?“, fragte ich sie vor ihrer Heimkehr. Sie konterte: „Glauben Sie denn, auf der Krim muss man keine haben?“
Tschechows Haus
Im Aj Danijl jedenfalls fühlte ich mich wunderbar geborgen. Ich fand es beruhigend, nachts eine Krankenschwester im Korridor zu wissen. Das Sanatorium lag am Rande der Stadt Jalta. Mein erster Ausflug führte auf der anderen Seite der Stadt die Berge hinauf: zur Villa Anton Pawlowitsch Tschechows.
Unterwegs stieß ich auf einen in den Hang gebauten, filigranen Holzpavillion. Hier gab es Souvenirs: unwiderstehliche grüne Malachit-Ohrringe mit schwarzen Strichen in der Mitte – wie die Augen meiner Katze Kleopatrotschka. „Sie sind gewiss eine Polin“, sagte die Verkäuferin. Mehrfach versuchte ich, ihr klar zu machen, dass dies nicht der Fall sei. Vergebens. Sie beharrte darauf, dass ich Polin sei. Schließlich gab ich mich geschlagen und beschloss, eine zu bleiben.
„Aus Polen!“ sagte ich deshalb, sobald die Führerin in Tschechows Haus mich und mein Herkunftsland in ihre Besucherliste eintrug. Der Dichter hatte hier im Jahr 1888 seine Villa errichten lassen. Schwer tuberkulös, neigte er im Gegensatz zu seinen literarischen Figuren weniger zum Selbstbetrug und wusste, dass er sich trotz der guten Luft seine arme Seele aus dem Leib husten würde. Das Gebäude ist ganz und gar tschechowesk und könnte als Kulisse für die beiden Stücke dienen, die hier entstanden: den „Kirschgarten“ und die „Drei Schwestern“. Viele der Bäume und Sträucher, die heute im Garten stehen, hat Anton Pawlowitsch selbst gepflanzt.
Während des Rundgangs kam die Führerin auch auf die Bedrohungen im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Die Nazis hatten hier außer den Juden noch andere Ethnien fast ausgerottet. „Im Jahre 1944 kamen die Deutschen den Hang hinauf und näherten sich plündernd dem Haus“, erzählte sie. Damals habe noch Tschechows Schwester Maria gelebt. Geistesgegenwärtig schnappte die uralte Dame sich ein Foto ihres Bruders und einige Übersetzungen seiner Werke, ging den Besatzern entgegen und machte ihnen klar, wessen Haus dies hier war. „Die Deutschen zogen sich wieder zurück“, schloss die Führerin feierlich: „Sogar diese Barbaren kannten unseren großen Dichter Anton Tschechow.“ – Wie froh war ich da, doch eine Polin zu sein.
Wohnalltag
Zur Siestazeit fütterte ich gern eine multiethnische Katzentruppe im Sanatoriumspark. Bei meiner Rückkehr ins Haus hörte ich eines Tages eine Stimme leidenschaftlich klagen: „Hier hat sich nichts geändert, ihr seid die selben Schweinehunde, die ihr immer wart!“ Als ich diesen erfrischenden Worten nachging, traf ich auf eine Schwesternhelferin. Nennen wir sie Sofja Antonowna. Die Mittdreißigerin, alleinerziehende Mutter dreier Kinder, wohnte mit ihnen auf dem Betriebsgelände. Wie sich herausstellte, hatte der Sanatoriumsdirektor eines der zwei Zimmer in ihrer Wohnung versiegeln lassen, damit sie es nicht nutze.
Also auf zu diesem Boss! „Nette Katzen haben Sie“, eröffnete ich das Gespräch und bekam zur Antwort: „Alles bloß Dreck! Denen machen wir im November den Garaus!“ Sofja Antonowna und ihre Kinder zählten für ihn offenbar zur selben Kategorie. Das zweite Zimmer in ihrer Wohnung gehöre nicht ihr, sondern früheren, nun lange abwesenden Mitbewohnern. „Und warum kann sie das Zimmer nicht zwischennutzen?“ „Weil sie und ihre Bälger minderwertig sind“, sagte er, „die stammen doch alle von verschiedenen Vätern.“
Eine halbe Stunde später schrieb ich auf Heftseiten die erste und bisher letzte Denunziation meines Lebens. Ich hielt die Aussage des Direktors fest und schickte alles an ein Simferopoler Gericht. Bei meinem nächsten Besuch durften Sofja Antonowna und ihre Kinder das Zimmer schon nutzen. Im Sommer vermieteten sie es allerdings an Kurgäste. Der Kapitalismus hatte auch auf der Krim gesiegt.
■ Barbara Kerneck, freie Moskau-Korrespondentin von 1988–2000, akkreditiert für das Kursbuch