Moralisch integrer Putschist

Christoph Twickel hat eine kundige Biografie von Hugo Chávez geschrieben, die nicht nur dessen Leben überzeugend darstellt, sondern auch die politische Entwicklung Venezuelas

VON RAUL ZELIK

Wenn in den vergangenen Jahren (Mitte-)Links-Kandidaten in Lateinamerika in Präsidentenämter gewählt wurden, war die europäische Presse meist schnell mit Urteilen bei der Hand. Politiker wie der brasilianische PT-Chef Lula galten als Repräsentanten eines modernen Reformkurses, auch wenn sich ihre Vorstellungen sich weitgehend mit denen der Unternehmerverbände deckten. Diejenigen hingegen, die wie der venezolanische Präsident Hugo Chávez konfrontativere Töne anstimmten, wurden als Populisten disqualifiziert.

Allmählich wird deutlich, dass diese Beschreibung in erster Linie ideologisch motiviert war. So zeichnete sich die erste Amtszeit des Reformers Lula vor allem durch Korruptionsskandale aus. Da wurden Parlamentarier der fragilen Regierungskoalition mit Hilfe illegaler Rodungslizenzen bei der Stange gehalten, das Null-Hunger-Programm blieb Makulatur. Venezuelas Präsident Chávez dagegen, der in den europäischen Medien schon mal als verrückt bezeichnet wird, hat in seinem Land umfangreiche Sozialprogramme auf die Beine gestellt, die staatliche Ölwirtschaft erfolgreich reformiert und eine effektive Umverteilung von Bauernland eingeleitet.

Kritiker wenden zwar nicht zu Unrecht ein, dass es leicht sei, Sozialpolitik zu machen, wenn man über hohe Öleinnahmen verfüge. Sie verkennen jedoch, dass die Regierung Chávez hart dafür arbeiten musste, diese höheren Öleinnahmen zu erzielen. Bei ihrem Amtsantritt 1999 lag der Ölpreis bei 9 Dollar pro Barrel. Erst Venezuelas Anstrengungen zur Stärkung der Opec und die Umstrukturierung des staatlichen Ölkonzerns PDVSA sorgten dafür, dass der Ölpreis zwei Jahre später wieder bei etwa 30 Dollar lag und der Staat die wachsenden Öleinnahmen auch kontrollierte. Es war diese Politik, die Chávez zwei Putschversuche bescherte und ihn zur lateinamerikanischen Symbolfigur machte.

Der Hamburger Journalist Christoph Twickel versucht in seiner Biografie, dem so schwer zu fassenden Politiker Chávez näherzukommen. Er zeichnet, lebendig geschrieben, den Weg nach, der den farbigen Lehrersohn aus der südvenezolanischen Provinz in die Reihen der Armee und dann der Politik führte. Er schildert, wie Chávez Ende der 1970er-Jahre in linken Gruppen zu konspirieren begann, die Armutsaufstände im Februar 1989 und ihre blutige Niederschlagung durch die Armee erlebte und schließlich den korrupten Präsidenten Carlos Andrés Pérez Anfang 1992 zu stürzen versuchte. Pikanterweise war der ein ehemaliger Vizepräsident der Sozialistischen Internationale. Twickel geht zudem den verborgenen Verbindungslinien nach, die es zwischen Militärrevolten, radikalen Linken, Exguerilleros und Selbstorganisierungsprozessen in den Armenvierteln gab.

Insofern verfällt Twickel nicht in den für die Venezuela-Debatten der vergangenen Jahren so charakteristischen Fehler, die politische Entwicklung auf die Person Chávez zu reduzieren. Denn: „Der Virus des caudillismo, der Fetischisierung des Führers, ist ansteckend. Er ergreift nicht nur die Chávez-Anhänger, sondern auch und vor allem seine Gegner.“ Twickel macht sichtbar, dass der Wahl von Chávez 1998 ein langjähriger Gärungsprozess voranging. Denn das klientelistische System, mit dem Christ- und Sozialdemokraten den Staat in einen Akkumulationsapparat verwandelt hatten, hatte in den 1980er- und 1990er-Jahren zu einer fundamentalen Krise der Repräsentation geführt. Erst in diesem politischen Vakuum konnte sich das politische Phänomen Chávez entfalten: Ein moralisch integrer Putschist bündelte den allgemeinen Wunsch nach Veränderung.

Twickel beschreibt das alles treffend und mit einem Detailwissen, das bislang in Buchform auch auf Spanisch so nicht vorliegt. Er reduziert den Transformationsprozess dabei nicht auf die Figur des Präsidenten und lässt doch dessen persönliche Widersprüchlichkeit deutlich werden: Chávez, wie er mal die ökologische Abkehr vom Öl propagiert, dann wieder eine Pipeline durch das Amazonasgebiet bauen will; Chávez, wie er einerseits direktdemokratische Strukturen in Armenvierteln stärkt, sich auf internationaler Bühne aber ausgerechnet mit Lukaschenko in Weißrussland oder mit Ahmadineschad in Iran verbündet.

In der zweiten Hälfte verliert Twickels Biografie leider etwas an Tiefgang und beschränkt sich darauf, die Ereignisse während und nach den Putschversuchen nachzuzeichnen. Interessierten dürfte vieles davon bekannt sein. Und die entscheidenden Fragen beantwortet das Buch nicht: Wie wird sich das venezolanische Projekt weiterentwickeln; und warum haben die staatssozialistischen, eher technokratisch orientierten Berater um Chávez, wie der unsägliche deutschmexikanische Professor Heinz Dietrich oder die Seilschaft der spanischen Izquierda Unida, seit 2004 offensichtlich auf Kosten von Basisbewegungen an Einfluss gewonnen?

Stattdessen kriegt man erneut die „kollektive Projektionsfläche“ Chávez vorgeführt: Jeder versteht bei dem Präsidenten das, was er selbst in ihn hineininterpretiert. Das Knäuel von Interessen, Vorstellungen und Projekten, das sich mit und um Chávez gebildet hat, kann auch Twickel nicht entwirren. Trotzdem ist diese Biografie besser recherchiert, informativer und lesenswerter als alles, was in den vergangenen Jahren zu dem Thema erschienen ist.

Christoph Twickel: „Hugo Chávez. Eine Biografie“. Edition Nautilus, Hamburg 2006, 352 Seiten, 19,90 Euro