Große Reform, wenig Abgeordnete

Gestern im Bundestag: Künast schwatzt, Gysi gibt Lehrstunden – die Gesundheitsreform ist Nebensache

BERLIN taz ■ 30 Stuttgarter Schüler sitzen auf den Besucherbänken des Bundestages. Sie sind auf Kursfahrt in Berlin, unten im Plenum debattieren die gewählten Volksvertreter die Gesundheitsreform. Das Thema hatten sie im Unterricht, die Gymnasiasten kennen sich aus: „Da soll es einen Gesundheitsfonds geben, in den alle ihre Beiträge einzahlen und aus dem die Kassen einen einheitlichen Beitrag erhalten“, erzählen sie kundig.

Auch die Abgeordneten sind ganz gut informiert. Immerhin konnten sie zehn Monate lang verfolgen, wie eine geschlossene Runde Fachpolitiker und Parteiobere Detail um Detail einer Reform aushandelten, die im nächsten Jahr für 80 Millionen Versicherte gelten soll. Jetzt dürfen die Gesetzgeber endlich selber ran an den Entwurf – aber nur etwa 120 der 614 Volksvertreter kreuzten persönlich auf. Dabei waren die Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linkspartei im Vorfeld noch gegen die Reform angerannt.

Zum Schlagabtausch kam es auch im Bundestag – aber der Nervenkitzel fehlte. Der Gesetzgeber schien nicht mehr an seine Gestaltungsmacht zu glauben. SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt musste sich in ihre Zeit als Lehrerin für erziehungsschwache Kinder versetzt fühlen, als sie ihr Auftaktreferat hielt. Die Anwesenden hatten Mühe zuzuhören, manche gaben sich erst gar keine. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast schlenderte plaudernd durch die Reihen. Und steckte, nachdem sie sich dann gesetzt hatte, den Kopf zu SPD-Generalsekretär Olaf Scholz rüber. Der reagierte dankbar auf jede Ablenkung.

Was Schmidt zu sagen hatte, war nicht neu: dass die Gesundheitsreform ein gutes Gesetz sei, das für mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sorge, mehr Wahlfreiheit für die Versicherten bringe. Es gäbe diesmal, wie bei anderen Reformen, keine Leistungskürzungen. Das alles ist nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Schmidt ließ unerwähnt, dass die Krankenkassen ihre Beiträge im nächsten Jahr um durchschnittlich 0,5 Prozentpunkte erhöhen wollen und sogar damit drohen, ihren Mitgliedern künftig noch Zusatzbeiträge abzuverlangen.

Mehr als routinierten Beifall erhielt Schmidt von ihrer Fraktion denn auch nicht. Die Kritiker innerhalb der SPD sind nicht verstummt, besonders die SPD-Linken verlangen Nachbesserungen. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) sagte unmittelbar nach der Sitzung: „Wenn die Reform in der Akzeptanz eine Chance haben soll, dann darf nicht als Erstes der Beitragssatz steigen.“ Er forderte, die Steuerzuschüsse fürs Gesundheitswesen zumindest nicht wie geplant abzusenken.

Den Oppositionsparteien im Bundestag lieferten die Reden von Schmidt und Unionsfraktionsvize Wolfgang Zöller (CSU) genug Stoff, um die Reform zu kritisieren. Mehrmals fielen die Worte Monster und Murks, auch in Verbindung mit Merkel-Murks. Angela Merkel war zu diesem Zeitpunkt schon wieder verschwunden. Sie hatte sich nur 20 Minuten im Hohen Haus gezeigt, gelangweilt.

Die Argumente zwischen Befürwortern und Kritikern der Gesundheitsreform waren in den vergangenen Monaten so oft ausgetauscht worden, dass die Redner sich schon etwas Besonderes einfallen lassen mussten. Der FDP-Gesundheitsexperte Daniel Bahr zückte ein Duden-Fremdwörterbuch und las zum Stichwort Fonds vor: „Gesamtheit der Mittel eines sozialistischen Betriebes“ – er wollte wohl auf den sozialistischen Kern der Reform lenken. Woraufhin der Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, sich anbot, in der FDP mal ein Seminar zum wahren Sozialismus zu geben.

Die Schüler auf den Besucherrängen waren von dem Lehrstück in Sachen Realpolitik beeindruckt: „Man hat sich das aus dem Fernsehen alles viel größer vorgestellt. Hier wirkt es so niedlich.“ ANNA LEHMANN