OFF-KINO: Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Bekanntlich ist der soziale Druck, der auf dem Individuum in der Gesellschaft lastet, in Japan größer als irgendwo sonst auf der Welt. Da fühlt sich der japanische Mann schon schnell einmal als Versager, wenn er die Ansprüche von Arbeitgebern, Eltern und Kindern nicht erfüllen kann. Diese Situation ist auch der Ausgangspunkt von Sogo Ishiis Sozialsatire „Gyakufunsha-Kazoku“ (Die Familie mit umgekehrtem Düsenantrieb) von 1984. Da hat es die Familie Kobayashi nämlich anscheinend gerade geschafft: raus aus dem Wohnsilo in der Innenstadt und hinein in das eigene kleine Häuschen in der Vorortsiedlung. Endlich haben die beiden fast erwachsenen Kinder eigene Zimmer, und der Vater muss sich nicht mehr länger als Verlierer vorkommen. Doch dann zieht auch der Opa mit ein und bringt das neue Familiengefüge gleich wieder durcheinander. Allerdings ist Opa nicht das einzige Problem: Hier denkt jeder nur an sich, und das sich zusehends von seinen Angehörigen entfremdet fühlende Familienoberhaupt steuert alsbald auf einen totalen Zusammenbruch zu. Den kündigt Ishii mit dem „Vertigo“-Effekt (Kamerafahrt zurück mit gleichzeitigem Zoom kombiniert) und einer irren Hetzjagd vom Büro durch die Straßen und die U-Bahn bis nach Hause an. Die zweite Hälfte von Ishiis böser Satire besteht dann auch ausschließlich aus einem ebenso erbitterten wie surrealen Krieg der verschiedenen Familienmitglieder gegeneinander, den der Regisseur vehement und temporeich mit allerlei absurd-lustigen Anspielungen auf Zombie- und Kettensägenhorror in Szene gesetzt hat. Am Ende steht die völlige Zerstörung des Hauses und des Traums vom friedlichen Kleinbürgerleben, der sich als fieser Albtraum erwiesen hat. Im Arsenal ist „Gyakufunsha-Kazoku“ im Rahmen der Filmreihe „Nippon 80s“ zu sehen, die sich den Positionen des japanischen Kinos der 1980er Jahre widmet. (OmU, 19. 11., Arsenal)
Buster Keaton hatte kein leichtes Schicksal: Nicht allein, dass er in den 1920er Jahren in einem unerfreulichen Scheidung-prozess das Sorgerecht für seine Kinder sowie fast alle materiellen Güter an seine Frau verlor, er ging auch seiner Unabhängigkeit als Filmemacher verlustig, als sein Kontrakt an MGM verkauft wurde, wo man ihn und seine Art Filme zu machen überhaupt nicht verstand. Nach kurzer Zeit war Keaton ein depressiver Alkoholiker, der mit miserablen Burlesken verheizt und schließlich gefeuert wurde. Während alle Welt Chaplin huldigte, verbrachte Keaton seine Zeit mit Entziehungskuren und Auftritten in Filmen, deren Qualität ebenso zu wünschen übrig ließen wie ihr Budget. Immerhin bekam er noch mal die Kurve, fand Anstellung als Gagschreiber für andere Komiker und lebte lange genug, um zu erfahren, dass die Welt ihn schließlich als Genie feierte. „Go West“ (1925) ist eines der unbekannteren Werke noch aus Keatons Glanzzeit: eine dem Pioniergeist huldigende melancholische Komödie, in der er sich als Cowboy versucht und die ihren Höhepunkt in einer Rinderstampede mitten durch eine Stadt findet. (22. 11., Babylon Mitte) LARS PENNING
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