: Warten auf den Dichter
LYRIK Wäre gerne wie Benn, ist aber eigentlich eher ein guter Essayist denn ein toller Lyriker: Durs Grünbein und sein aktueller Gedichtband „Cyrano oder die Rückkehr vom Mond“
VON EBERHARD GEISLER
Durs Grünbein ist ein hochgelobter Autor, und er wurde mit einer Vielzahl von Preisen bedacht, darunter der Büchnerpreis, der als die höchste Auszeichnung gilt, welche die deutsche Kritik derzeit zu vergeben hat. Obschon von vielen zum Dichter-Star gekürt, hat er es seinem Publikum alles andere als leicht gemacht.
Bereits in seiner ersten Veröffentlichung, „Grauzone morgens“ (1988), in der er Momentaufnahmen der späten, unglaubwürdig gewordenen DDR gibt, visiert er eine Dichtung, die allen „metaphysischen Raffinessen“ entsagt. Diesem Gedanken ist Grünbein im folgenden Werk treu geblieben. Welt und Ich zerfallen für ihn in ein Geflimmer einzelner Wahrnehmungen, ohne dass es für beide ein Zentrum gäbe; das Ich ist bodenlos, und die Welt ordnet sich nicht mehr zu einer Idee. Verschwunden ist die Möglichkeit, die Wirklichkeit erzählend in einen bruchlosen Zusammenhang zu fassen, und es bleibt allenfalls die Frage nach einem Mythos, wie es in der „Schädelbasislektion“ (1991) heißt: „Schrill und verwickelt treiben die Dinge an dir vorbei / War da irgendein Mythos, der all dem entspricht?“ Der Vers bricht ab und findet keine Antwort.
Die Abkehr von Metaphysik führt zu einer radikalen Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die Physis. Der Mensch reduziert sich auf seine Organe: „Was du bist steht am Rand / Anatomischer Tafeln“. Grünbein zeigt sich fasziniert vom menschlichen Hirn, dieser Black Box, deren neurobiologische Vorgänge sich beschreiben lassen und der einst das Cogito und etwas wie Subjektivität zugeordnet worden war. Das Thema des Todes korreliert mit dieser Blickrichtung. In „Den Teuren Toten“ (1994) schreibt der Autor Epitaphe auf Leute, die an den verschiedensten Todesursachen gestorben sind: durch Verkehrsunfälle, Selbstmord, fahrlässigen Gebrauch eines Heißluftföns, als Mordopfer in der U-Bahn oder im Meer von Haien gefressen. Eindrückliche Gedichte beschreiben soeben verendete Tiere.
Grünbein gehört zu einer Generation von Lyrikern, die die Lyrik wieder näher an die Wissenschaft heranführen wollen. Die Entzweiung von Naturwissenschaft und Poesie, Denken und Anschauung hat er bis auf Dante zurückverfolgt. Genetik und Physiologie sollen von nun an das Wissen von der Seele erweitern. Er stellte sich und den Zuhörern einmal die Frage, ob die Schriftsteller nicht eigentlich Mediziner werden sollten. Identifiziert er sich damit aber nicht mit dem Angreifer, wie es in der Psychologie heißt? Führt der konstatierte Selbstverlust am Ende zu allzu rascher Einwilligung?
Musik und Innerlichkeit
Es spricht für sich, dass Grünbein über keinerlei Gespür für Musik verfügt. Er hat über Dichter, Maler und Philosophen publiziert, aber über keinen Komponisten. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass ein Lyriker sich heute an Bach abarbeitet statt etwa an Descartes, über den Grünbein ein Buch geschrieben hat. Es erscheint aber fragwürdig, dass jede Innerlichkeit in die Ferne rücken soll: „Die Formel von der Innerlichkeit führt in die Irre. Gedichte sind so wenig innerlich wie Kristalle oder elektromagnetische Felder.“
Man muss sehen, dass sich Grünbein damit in Differenz zu dem Kollegen und Arzt Gottfried Benn begibt, dem er in seiner Bemühung, die Dichtung an Naturwissenschaften und Medizin heranzuführen, vielleicht gerne geglichen hätte, der in seiner Melancholie und seinem Willen zur Umgrenzung des Ich aber einen eigenen Melos erreicht hat, der Grünbein versagt geblieben ist. Bekanntlich ist die moderne Lyrik von großen Selbstzweifeln bestimmt, und die Möglichkeit einer starken eigenen Stimme ist ihr in den Hintergrund gerückt, wie es etwa ein Dichter wie Federico García Lorca empfunden hat, der sich die Stimme nur noch als eingeklammerte und gedämpfte denken mochte.
Die Zeiten, in denen die Stimme darauf aus war, sich selber sprechen zu hören, um sich als Garantin von Präsenz zu erleben und zur metaphysischen Instanz aufzuspreizen, sind lange vorüber; der Dekonstruktivismus hat ganze Arbeit geleistet. Gleichwohl müssen wir nach wie vor den Anspruch an einen Dichter von Rang erheben, dass die Stimme, obwohl sie zurückgenommen ist, doch noch immer als solche zu erkennen ist.
Nun legt Grünbein also einen neuen Gedichtband vor. Er widmet ihn der jahrtausendealten menschlichen Beschäftigung mit dem Mond. Im Mittelpunkt steht Cyrano de Bergerac, der im 17. Jahrhundert eine Reise zum Mond ersann, von der er glücklich wiederkehrte. Aber auch Forscher werden zitiert, die den Mond kartografierten und nach denen Mondkrater benannt sind, der Barockdichter Quirinus Kuhlmann, der sich vom Mond angeblich seine nächsten evangelistischen Expeditionen hat befehlen lassen, frühe Flugversuche sowie schließlich die amerikanische Apollo-Mission.
Schon immer hat das nächtliche Silberlicht des Trabanten seinen Bann ausgeübt. Grünbein, der Mythen vermisste, schafft dabei etwas wie einen Minimalmythos, denn vom All her wird gleichsam der blaue Planet entdeckt, und das Verweilen auf der Erde erscheint nun als das eigentlich sinnvolle Ziel. Der Mond mag zwar Bodenschätze bereithalten, aber er ist doch völlig unbewohnbar. Über seine Rückseite heißt es: „Niemand wird baden je, segeln im Moskauer Meer.“ Nietzsche hatte einst seinen Zarathustra ausrufen lassen: „Ich beschwöre Euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche Euch von überirdischen Hoffnungen reden!“; dieser Absage an Jenseitshoffnungen fügt Grünbein nun die Absage an die entfesselte Lust zur Raumfahrt hinzu. Nicht von ungefähr wählt er als Motto einen Satz von Novalis, der das Weltall im Innern der menschlichen Brust zu suchen heißt.
Im wohl schönsten Gedicht des Bandes – es trägt den Titel „Tacchini“ – schildert der Autor das Erstrahlen des Planeten im künstlichen Licht der nächtlichen Städte, das die Sterne verblassen, den Mond ergrauen, und die Crew der Weltraumfähre voll Wehmut auf das irdische Fest herabschauen lässt.
Das Taumeln des Mondes
Was Grünbeins lyrisches Schreiben selbst betrifft, ist alles beim Alten geblieben. Die Befrachtung mit Bildungsgut ist nicht zu übersehen und mit Bedauern zu konstatieren. Die Titel der Gedichte nennen jeweils eine Persönlichkeit aus der Geschichte des Geistes oder der Monderforschung und -eroberung, und der Leser vermag kaum ständig den komplexen, gelegentlich entlegenen Anspielungen umständlich nachzugehen; dabei droht die Gelehrsamkeit die fragilen, wortkargen Verse schier zu erdrücken. Es ist eine Gelehrsamkeit, die nicht ausgearbeitet und tatsächlich vom dichterischen Text eingelöst wird. Kein Gedicht steht wirklich für sich selbst, jedes verweist stets auf den thematischen Gesamtzusammenhang, zu dem er ein Mosaiksteinchen beitragen soll.
Vielleicht wäre Grünbein besser Essayist geblieben; da hätte er verdienterweise Meriten sammeln können. Sein Nachwort nämlich ist hervorragend; es verbindet überzeugend Anschauung und Reflexion. Gern liest man die Darstellung von Freizeitbeschäftigungen eines Sonntags auf dem Rollfeld des stillgelegten Flughafens Tempelhof, auf dem Rollschuhfahrer ihre Bahnen ziehen oder Väter und Söhne ihre Modellflugzeuge steigen lassen. Gelungen sind die Ausführungen zum Begriff der Libration, jenem Taumeln des Mondes in seiner Bahn, das bei Langzeitbeobachtern ein Schwindelgefühl hervorruft und vom Autor gleichzeitig zur hermeneutischen Metapher gemacht wird.
Wie der Mond zwar reine Kontextlosigkeit darstellt, was ihn rätselhaft macht, aber in viele Kontexte gestellt werden kann und damit viele Deutungen provoziert, so ist auch der Sinn eines Gedichtes unweigerlich abhängig von den wechselnden Lebenssituationen der Leser. Der Autor resümiert dieses doppelte Taumeln: „So gleicht das Gedichtelesen dem Blick aufwärts zum Mond, der den Menschen einschließt in seine Intimität, ihn zurückwirft auf seine Existenz, die insgesamt bodenlos ist.“
Das Lob aber muss im Wesentlichen auf die Prosa beschränkt bleiben. Der große deutsche Dichter der Gegenwart ist Grünbein nicht; auf einen solchen warten wir immer noch.
■ Durs Grünbein: „Cyrano oder die Rückkehr vom Mond“. Suhrkamp, Berlin 2014, 151 Seiten, 20 Euro