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Archiv-Artikel

Ein unerbetener Rat unter Freunden

STAATSBESUCH Bundespräsident Gauck sieht die türkische Demokratie in Gefahr

ISTANBUL taz | Nach dem Gezi-Aufstand im letzten Jahr hat Bundespräsident Joachim Gauck als erster hochrangiger Politiker aus der EU der Türkei einen Besuch abgestattet. Ein besonderes Zeichen setzte er mit einer Rede vor Studenten der Technischen Hochschule (ODTÜ) in Ankara, die als Hochburg der Opposition gilt.

Gauck kritisierte Ministerpräsident Erdogan, den er unmittelbar davor zu einem Mittagessen getroffen hatte, ungewöhnlich scharf. Er sehe den Rechtsstaat und die Demokratie in Gefahr, wenn die Meinungsfreiheit so massiv beschnitten würde wie derzeit in der Türkei und Kritiker der Regierung verfolgt würden. „Als Demokrat werde ich dann meine Stimme erheben, wenn der Rechtsstaat in Gefahr ist“, sagte Gauck, „auch wenn es nicht mein Rechtsstaat ist.“

Seine Kritik wollte Gauck als Rat unter Freunden verstanden wissen, so wie Deutschland auch offen für Kritik aus der Türkei anlässlich der NSU-Morde gewesen sei. In einer vorangegangenen Pressekonferenz mit dem türkischen Ministerpräsidenten Abdullah Gül war Gauck bereits explizit auf Twitter und Facebook-Verbote eingegangen, die seiner Meinung nach für eine Demokratie nicht akzeptabel seien.

Gauck hatte am Sonntag ein syrisches Flüchtlingslager und die Soldaten der Bundeswehr besucht, die mit Patriot-Raketen den türkischen Luftraum vor Angriffen aus Syrien schützen sollen. Anschließend lobte er die Bereitschaft der Türkei, über eine Million Flüchtlinge zu versorgen. Er wünsche sich, sagte er, dass auch das reiche Deutschland bereit sei, mehr für die Flüchtlinge aus Syrien zu tun.

Für Gauck war der Türkeibesuch eine etwas heikle Gratwanderung zwischen dem Wunsch, die angespannten Beziehungen Deutschlands zur Türkei wieder etwas zu verbessern, und dem Erfüllen der Erwartung, die immer autoritärer und repressiver werdende Politik von Ministerpräsident Erdogan deutlich zu kritisieren. Mit seinem Lob für die Flüchtlingsarbeit, der Anerkennung für den Aussöhnungsprozess mit den Kurden und der Bewunderung für das enorme wirtschaftliche Wachstum unter Erdogans Herrschaft einerseits und der deutlichen Kritik an undemokratischen Methoden andererseits versuchte er, die Balance zu halten.

Lediglich bei der unvermeidlichen Frage nach dem türkischen EU-Beitritt geriet er ins Trudeln. Gauck mochte sich nicht festlegen und verwies darauf, dass derzeit in der EU andere Fragen auf der Tagesordnung stünden. JÜRGEN GOTTSCHLICH