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Archiv-Artikel

Eine Utopie mit weiten Maschen

„We are the web!“, die Euphorie geht weiter – weil sich die Realität des Netzes der Idee vom Netz anverwandelt. Es ist ein demokratisches, partizipatives, kooperatives Utopia. Jeder kann sein Ding machen. Aber: Wer nicht online ist, der bleibt auch in sozialer Hinsicht ohne Stimme

Die einen begrüßen das Netz als „Freiheitstechnologie“, die anderen fürchten es als „Ungleichheitsmaschine“

von ROBERT MISIK

Technologische Revolutionen verändern unsere Sprache und unsere Mentalität – und wir halten gedanklich kaum mehr Schritt. „Netzwerk“ steht heute für ungezwungene horizontale Assoziation, für spielerisches trial and error, für den Zugang aller zu Wissen, aber auch für die Möglichkeit eines jeden, sich jederzeit Gehör zu verschaffen. Es ist der Kontrastbegriff zur starren, vertikalen Hierarchie. Die Netzmetapher ist entschieden positiv besetzt.

Dass vor 15 Jahren die Netzmetapher noch völlig konträr gebraucht war, daran haben erst kürzlich Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrer Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ erinnert. Bis dahin wurde „Netz“ als Metapher für „Zwangsstrukturen“ benutzt, aus deren Maschen es „für das Individuum kein Entrinnen“ gibt. Der Begriff Netzwerk war zudem „stets mit Heimlichtuerei verbunden“. Wer an Netzwerke dachte, dachte an Sizilien: Mafia, Ränkespiel, an „Eine-Hand wäscht die andere“.

Doch heute bilden die Netzwerke „die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften“, wie das der Berkeley-Professor Manuel Castells in seinem monumentalen Triptychon über „Das Informationszeitalter“ formuliert. Das Netzwerk ist das Symbol des 21. Jahrhunderts – Letzteres wird nach allgemeiner Überzeugung von „Netzen aus Netzwerken“, dynamischen Netzen, Netzwerkschwärmen, durch „Wachstum ohne Plan“ und flexiblen Strukturen geprägt sein. Mit einem Wort: durch das kreative Chaos der schönen neuen Netzwelt.

Wir sehen also: Das Internet ist nicht nur Technologie, nicht bloß Server, Rechner, Glasfaserkabel und Software – es ist auch eine große Utopie. Von etwas utopischem Überschuss ist selbst die nüchternste Beschreibung von Technologie niemals frei – wahrscheinlich nicht einmal die simpelste Bedienungsanleitung, die uns ja immer auch Zugang zu unerhörten Möglichkeiten verspricht. Vor allem pflegen wir Menschen, in den Worten des US-Philosophen Fredric Jameson, „über die Technologie als eine Allegorie sozialer Beziehungen“ nachzudenken. In den Reden über Technologie kommt immer auch zum Ausdruck, wie wir uns die soziale Realität vorstellen, welche Art von Gesellschaft wir uns wünschen – oder welche wir fürchten.

Platter Techno-Utopismus ist dann meist nicht fern: Sehen die einen das Netz als „Freiheitstechnologie“ und schon den Sonnenaufgang einer Netzwerkgesellschaft der Freien und Gleichen, so fürchten die anderen die Umwandlung der Menschen in technoide Cyborgs, klagen die einen über den Untergang alles „Echten“ in einer Kultur der virtuellen Realität, feiern die anderen die Entstehung einer Kreativgesellschaft der „realen Virtualität“. Das Netz ist, wie es die Berliner Netztheoretikerin und -praktikerin Mercedes Bunz sagt, eine große „Diskursmaschine“.

Damit soll aber nicht behauptet werden, dass die Ideen von Virtualität, Cyberspace und totaler Connectibilität nur krause Fantasien seien. Sondern vielmehr, dass man sich fragen soll, welche Realität welche Ideen gebiert – und welche Ideen welche Realität.

Das Paradoxe, nein: das Sensationelle ist nun, dass sich gerade in unseren Tagen, heute, in dieser Stunde, das reale Netz der Idee vom Netz anverwandelt. Nichts anderes nämlich ist mit dem Begriff Web 2.0 gemeint. Web 2.0 ist gewiss nichts, was ganz anders ist als das bisherige Netz – also das Web 1.0. Es ist nichts, was es nicht schon gäbe. Web 2.0 ist nur einfacher, unkomplizierter, niedrigschwelliger. Anders gesagt: Web 2.0 ist all das wirklich, wovon bisher immer gesagt wurde, dass es das Internet wäre: demokratisch, jeder kann rein und sein Ding machen. Gewiss galt auch bisher: Jeder kann HTML lernen. Klar. Es kann auch jeder Japanisch lernen.

Die wahrscheinlich beste Art, zu beschreiben, was Web 2.0 ist, besteht darin, dass ich ein paar Sätze über mich erzähle. Auch ich habe als Kind mit Elektrobausätzen Radios zusammengeschraubt – nur meine haben nie funktioniert. Warum die DJs Platten mit der Hand drehen und noch dazu in die falsche Richtung, habe ich nie begriffen – ich habe mich von Audiokassetten ausreichend gefordert gefühlt. Meinen Führerschein machte ich mit 37 Jahren. Meinen ersten MP3-Player erhielt ich zu meinem 40. Geburtstag. Was Filesharing ist, erfuhr ich im Juni. Aber: Seit einem Monat bin ich nicht bloß Konsument – nein ich bin Produzent, ja: Akteur! im Web 2.0. Seit ich www.misik.at habe, bin ich mein eigener kleiner Sender. Kurzum: Web 2.0 ist idiotensicher – wenn sogar ich schon begreife, wie man einen Weblog-Eintrag schreibt und Dateien „uploaded“, dann begreift das jeder.

„We are the web“, proklamierte Kevin Kelly in der ultimativen Wired-Story über das „Web zum Selbermachen“. Web 1.0 war geprägt von Technikfreaks, deren Wissen für unsereins ein Geheimwissen war – sowie von kommerziellen Interessen. Web 1.0 war für M wie Microsoft. Web 2.0 ist für Microsoft, Misik & Millions More. Die User sind es, die das Netz verändern. Es sind auch gerade die Geschäftsideen, die den Usern einfach eine Plattform zur Verfügung stellen, die aufsteigen wie eine Rakete: MySpace, das Fotoportal Flickr, das Videoportal YouTube, das gerade von Google erworben wurde. 1,6 Milliarden Dollar wurden für eine Firma mit gerade 67 Angestellten und lächerlich geringem Anlagevermögen bezahlt – das Vermögen von YouTube besteht aus einer Geschäftsidee und seinen Usern. Gute Geschäfte macht man, wenn man einen Rahmen bietet, in dem andere ihren Spaß haben, sich mit anderen verbinden können – das ist die MySpace-, Flickr-, YouTube-Idee (siehe Kasten). Und das größte Geschäft macht man, wenn man einen Rahmen anbietet, in dem andere Geschäfte machen können – das ist die eBay-Idee. „Was wir alle nicht vorhergesehen haben, war, wie sehr die neue Welt von den Usern fabriziert werden würde, nicht durch kommerzielle Interessen“, schreibt Wired-Mitbegründer Kelly. Das Zauberwort heißt „prosumtion“ – indem man konsumiert, produziert man, weil man das Web verändert.

Jeder kann heute alles tun – Internet-TV anbieten, Podcasts, also Audiosendungen produzieren. Und hunderttausende tun das. Natürlich, da finden sich Unmengen an Mist. Aber da der Pool an „Anbietern“ praktisch unendlich groß ist, finden sich auch viele grandiose Dinge. Und die setzen sich durch, weil die Suchroboter raffiniert genug sind, das nach oben zu spülen, was ein qualifiziertes Segment an Leuten gut findet – wer’s bezweifelt, möge unter ehrensenf.de, elektrischer-reporter.de, rebell.kaywa.com oder spreeblick.com nachsehen.

All das formt die soziale, politische und ökonomische Welt neu. In den USA haben Weblogs eine politische Macht, die es mit den großer Zeitungen aufnehmen kann. Die Journalisten bekommen von „Bürgerjournalisten“ Konkurrenz.

Etablierte, die ihre Position halten wollen, müssen auch im Netz präsent sein; und im Netz entwickelt sich eine neue Art Establishment und Celebrities. Die alten Medien müssen sich den neuen Medien anpassen, in der Zeichensprache, in ihrer narrativen Struktur. Oder sie werden ganz anders werden müssen, um sich vom Netzangebot ausreichend zu unterscheiden.

Jetzt macht die Realität die Probe auf die Netzphilosophie. Technologie ist nie nur Technologie – sie hat Einfluss auf Affekte, Emotionen, Mentalitäten. Aber sie ist auch nicht das allein Determinierende – sie selbst wird von den Menschen geprägt. Es ist, wie alles im Leben, eine Wechselwirkung. Die Bewohner dieses Planeten schließen sich zusammen zu einer großen Maschine – mehr als eine Milliarde Menschen haben heute Internetzugang. Die Netzmaschine „durchdringt unsere Leben bis zu einem Grad, der für unsere Identität prägend wird“ (Wired).

Das Erstaunliche ist: Trotzdem das Internet zu der mächtigsten Maschine von Maschinen geworden ist, ist viel von Pioniergeist geblieben, dem libertären Unterströmungen der Netzbastler. Das Internet ist die Mainstreamkultur, die aber „etwas von ihren gegenkulturellen Ursprüngen“ (Robert Castels) bewahrt – die Informalität, die Selbstbestimmtheit der Kommunikation, den Eigensinn kombiniert mit dem kooperativen Geist horizontaler Vernetzung. Was es prägt, ist ein seltsam gespanntes Gleichgewicht von Egozentrik und „kollektiver Intelligenz“, von „Ich-Kultur“ und „Gemeinschaftsträumen“. Einfluss hat hier, wer Aufmerksamkeit auf sich zu lenken vermag. Ohnmächtig ist, wer im Netz nicht repräsentiert ist – in dieser Hinsicht ist die Freiheitstechnologie Internet auch eine große Ungleichheitsmaschine. In Castels Worten: „Die Macht der Ströme gewinnt Vorrang gegenüber den Strömen der Macht.“

Früher hieß es: „Which side are you on?“, heute dagegen: „Which site are you on?“