: Österreichs Ökomekka
BIOMASSE Ein randständiger Ort Österreichs nutzte seine Naturressourcen und wurde zum Europäischen Zentrum für erneuerbare Energie – einschließlich Pilotanlage für Strom und Gas aus Holz
■ Bioenergiedörfer: Sie erzeugen ihren Strom und die benötigte Wärme aus Gülle, Gras, Holz oder anderen vor Ort erzeugten Rohstoffen. Das niedersächsische Jühnde, das bayerische Effelter und das brandenburgische Feldheim wurden dieses Jahr Sieger des bundesdeutschen Wettbewerbs.
■ Energieautonome Regionen: Das wollen in Österreich sowohl Südtirol als auch Vorarlberg werden. Dabei geht es um umfassende Konzepte, die neben dem Ausbau erneuerbarer Energien aufs Energiesparen setzen: Abwärmenutzung, neue Mobilitätsformen, Elektroautos, Passivbauweise für Neubauten und, und, und.
AUS GÜSSING RALF LEONHARD
Carolus Clusius hätte seine Freude mit seiner zeitweiligen Heimatgemeinde. Der niederländische Botaniker, der als Protestant im 16. Jahrhundert aus dem katholischen Habsburgerreich nach Westungarn fliehen musste, fand bei Fürst Balthasar Batthyány auf Burg Güssing Zuflucht. Hoch über dem Ort widmete er sich seinen wissenschaftlichen Studien und machte sich nachhaltig verdient, indem er exotische vorderasiatische Pflanzen wie Tulpen, Hyazinthen, Rosskastanie und Flieder in Zentraleuropa heimisch machte.
Güssing, ein 4.000-Seelen-Städtchen, das in Deutschland nur als Dorf durchgehen würde, liegt nicht mehr in Ungarn, ist aber mehr als 400 Jahre nach Clusius wieder interessant für die Wissenschaft. „Japaner setzen sich ins Flugzeug, nur um zu uns nach Güssing zu kommen“, sagt Christian Keglovits nicht ohne Stolz. Keglovits, der seinen Job im Landesstudio Burgenland des ORF aufgegeben hat, macht jetzt die Öffentlichkeitsarbeit für das Europäische Zentrum für erneuerbare Energie (EEE) in Güssing. Ziel der Besucher aus Fernost ist die Pilotanlage für Holzverdampfung, die seit Jahren in Güssing erprobt wird und als Schlüssel für die nachhaltige Energieversorgung vieler Gemeinden gilt.
1.000 neue Jobs
Alles begann vor 20 Jahren, als der Gemeinderat von Güssing beschloss, zunächst durch Einsparungen die Energieabhängigkeit zu verringern. 155 Kilometer südlich von Wien gelegen, war Güssing einer der entlegensten Winkel des Landes. Obwohl 70 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung nach Wien pendelte, gab es keinen Bahn- und Autobahnanschluss. Die meisten Pendler zogen es also vor, nur am Wochenende nach Hause zu kommen. Wer konnte, zog weg. „Die Jugend hatte keine Chance“, erinnert sich Bürgermeister Peter Vadasz, der 1992 erstmals gewählt wurde. Eines Tages habe man beschlossen, „nicht weiter zu jammern wegen Dingen, die man nicht hat“. Die neue Frage, so Vadasz, lautete: „Was kann man tun mit dem, was man hat?“
Die Antwort war schnell gefunden: Holz verarbeiten. Im und rund um das Gemeindegebiet stehen dichte Wälder. Ohne an die Substanz zu gehen, kann man ziemlich viel davon verheizen. So entschloss sich der Gemeinderat 1994, ein Hackschnitzelkraftwerk zu bauen, das alle öffentlichen Gebäude mit Fernwärme versorgen sollte. Der EU-Beitritt Österreichs stand bevor. Als „Ziel-1-Gebiet“ würde das Burgenland besonders gefördert werden. Da EU-Projekte in der Regel der Kofinanzierung bedürfen, standen Bund und Land unter Zugzwang, ihren Beitrag zu leisten. So bekam Güssing sein Fernwärmekraftwerk. Eine mit Rapsöl betriebene Biodieselanlage und zwei Biomasse-Nahwärmenetze, die in erster Linie mit Gras und Klee von den brachliegenden Wiesen gespeist werden, ergänzen das Angebot. Mehr als 80 Prozent der Familien optierten für einen Anschluss an die billigeren und bequemen Wärmequellen. Da die Gemeinde über den Fernwärmetarif selbst entscheiden konnte, gelang es ihr auch, Betriebe mit günstigen Konditionen anzulocken.
In den letzten 15 Jahren hätten sich 50 Betriebe in Güssing niedergelassen, mehr als 1.000 Arbeitsplätze seien neu geschaffen worden, freut sich Vadasz. Zu den Großbetrieben zählt die deutsche Parkettfabrik Parador, deren Produktionsstätte von Fertigparkett als eine der modernsten in Europa gilt. Ihre Holzabfälle muss sie nicht teuer entsorgen: Sie landen umgehend im Fernwärmekraftwerk und sorgen für preiswerte Energie. Bürgermeister Vadasz und seine Gemeinde zeigten sich durchaus erfinderisch, wenn es darum ging, die Wirtschaft und den eigenen Haushalt zu fördern. Sie gründeten eine Gesellschaft, die Dämpf- und Trocknungsanlagen errichtete und dafür öffentliche Subventionen bekam. Das wäre gewinnorientierten Unternehmen nicht möglich gewesen. Diese Anlagen wurden dann an Parador und eine zweite Parkettfabrik verpachtet. Nach zehn Jahren hatten sie sich amortisiert und gingen ins Eigentum der Parketterzeuger über.
Know-how für ganz Europa
Bei der Landesregierung in Eisenstadt stieß dieses Streben nach Energieautonomie anfangs auf große Skepsis. Sie führte Kostenargumente auf und stellte die Sinnhaftigkeit solcher Bemühungen generell infrage. „Heute finden sie toll, was wir alles erreicht haben“, sagt Vadasz nicht ohne Stolz. Er ist inzwischen ein europaweit begehrter Mann. In den letzten Wochen war er in Göttingen, Vaduz, Coventry, Maastricht und Aachen. Ende November wird er im toskanischen Castiglion Fiorentino erwartet. Im Dezember muss er nach Paris, im Januar nach Berlin.
Was die Gemeindeväter und -mütter kreuz und quer in Europa an Güssing interessiert, ist nicht die Fernwärmeanlage, sondern eine bahnbrechende Entwicklung, die den Weg aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen weist. Nach der erfolgreichen Abnabelung von Erdgaslieferanten wollte man einen Schritt weiter gehen. Vadasz und seine Leute im Güssinger Gemeinderat wussten von Festbettvergasern, die in Dänemark erfolgreich Holz in Strom verwandeln. Allerdings, so warnten die ehrlichen Dänen, sei der Teergehalt des erzeugten Kraftstoffes zu hoch.
„Dann kam unsere Sternstunde“, erinnert sich Bürgermeister Vadasz. Hermann Hofbauer, Professor am Institut für Verfahrenstechnik, Umwelttechnik und Technische Biowissenschaften an der Technischen Universität Wien, kam nach Güssing und berichtete von einer sensationellen neuen Technologie, die den Teergehalt praktisch auf null reduziere: die Wirbelschichtdampfvergasung.
Für Laien verständlich fasst Hofbauer seine Erfindung so zusammen: „Wir bringen die klassischen Kraft-Wärme-Kopplungen mit ihrem hohen Wirkungsgrad mit chemischen Reaktoren in einer einzigen Anlage zusammen.“
Unter dem Begriff Polygeneration wird dort die Erzeugung von Strom und Wärme mit der Produktion der Synthesegase Wasserstoff und Kohlenmonoxid kombiniert. Ausgangsstoff dafür ist Biomasse. Die entstehenden chemischen Komponenten können vor Ort zu künstlichen Brennstoffen wie Erdgas und flüssigen Treibstoffen wie hochwertigem Diesel weiterverarbeitet werden.
Zunächst mussten sich die Güssinger Pioniere die Füße wund laufen, um die Finanzierung eines Pilotprojekts an Land zu ziehen. Peter Vadasz: „Wir sind von Ministerium zu Ministerium gelaufen“. Im Jahre 2000 stand dann endlich die Anlage, die in 8.000 Jahresstunden 2 Megawattstunden Strom und 4,5 bis 5 Megawattstunden Fernwärme generiert. Das Provinznest im südöstlichsten Winkel des Landes war plötzlich zum Mekka erneuerbarer Energie und ihrer Erforschung geworden.
Die Gemeinde ist seither mit nationalen und internationalen Preisen und Auszeichnungen überhäuft worden: Energy Globe Austria 2001, Innovativste Gemeinde Österreichs 2004, Österreichischer und Europäischer Solarpreis 2004, Global 100 Eco Tech Award, Klimaschutzgemeinde 2008, Watt d’Or 2009 des Schweizer Bundesamtes für Energie.
Das 1996 gegründete EEE ist inzwischen eine europaweit anerkannte Forschungsinstitution, wo neue Verfahren zur Erzeugung erneuerbarer Energie entwickelt werden. Professor Hofbauer arbeitet gerade an einem Verfahren, das Reststoffe wie Plastikmüll und Klärschlamm in Treibstoff verwandelt. Es klingt wie im Märchen vom Rumpelstilzchen, das Stroh zu Gold spinnt. Gleichzeitig werden Energiekonzepte für andere Gemeinden ausgearbeitet.
Einfach kopieren könne man das Modell Güssing nicht, meint Christian Keglovits. Nicht jede Gemeinde verfüge über einen Waldanteil von 45 Prozent. Die Stadt Zeulenroda-Triebes in Thüringen etwa, für die gerade ein Konzept erstellt wird, habe zu wenig Land- und Forstwirtschaft im Umkreis.
Gegner Öllobby
Trotzdem könne fast jede Gemeinde sich klimaneutral mit Energie versorgen. Zuerst, so Keglovits, sei die Energieeffizienz zu prüfen. Einsparpotenzial gebe es immer. In einem zweiten Schritt müsse fossile Energie durch erneuerbare substituiert werden. Bei den einen geht es mit Biomasse, woanders mit Wind- oder Solaranlagen. Wenn das noch nicht reicht, dann müsse man CO2-Kompensation durch klimaneutrale Maßnahmen verfolgen und Strom dort einkaufen, wo er aus erneuerbaren Quellen kommt.
Bürgermeister Vadasz, der mit Kritik an seinen Politikerkollegen in Bund und Land nicht geizt, hält es für Wahnsinn, dass Österreichs Ölkonzern OMV Milliarden in die Erdgaspipeline Nabucco investiere: „Mit einem Bruchteil dieses Geldes könnte man in Österreich ein Vielfaches an Energie erzeugen.“ Die Öllobby und die Energieversorgungsunternehmen hält er neben der Ignoranz der Politiker für die größten Feinde der Energiewende.
Auch in Güssings eigener Bevölkerung hat sich noch nicht bei allen herumgesprochen, dass sie in einer Modellgemeinde leben. Renate Neumann, die in der Pizzeria Giovanni einen Tagesteller mit Spaghetti alla carbonara verputzt, schätzt die Grünflächen und die Einkaufsmöglichkeiten. Von einem Europäischen Forschungszentrum hat die Raumpflegerin noch nie gehört. Eine Frau, die gerade ihren Hund Gassi führt, ebenfalls nicht. Vielleicht, so meint Christian Keglovits, der fast täglich Delegationen durch die Anlagen führen muss, sollte man sich nicht nur um internationale Besucher kümmern, sondern auch den Güssingern besser vermitteln, was sie an ihrer Stadt haben.