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Archiv-Artikel

Träume aufgeben, Hoffnungen nicht

taz-Hauptschulserie „Das letzte Jahr“ (Teil 3): Derzeit machen die SchülerInnen der Klasse 10/3 der Werner-Stephan-Oberschule Erfahrungen mit der Wirklichkeit außerhalb der Schule. Sie absolvieren Berufspraktika. Für die Hauptschüler ist der Einstieg in die Arbeitswelt ein Glücksfall. Drei Beispiele

„Gut ist untertrieben“, sagt Robert auf die Frage, ob er sich mit Computern auskenne

Von ALKE WIERTH

Julia sitzt im Hinterzimmer des Friseursalons Schnitt-Punkt in Spandau. Die Kaffeemaschine hat Dauerdienst, auf dem Tisch des Personalraums liegen Zigaretten, Marke Kim und Eve. Der Laden brummt, die Friseure vorne sind fast pausenlos im Einsatz. Die Kunden kommen aus allen Kreisen der Spandauer Einwohnerschaft. Die Preise im Schnitt-Punkt sind günstig. Schülerpraktikantin Julia hilft, wo sie kann: Kunden empfangen, Getränke anbieten, Jacken zur Garderobe bringen – das sind derzeit ihre Aufgaben, erzählt sie. Demnächst soll sie auch Haare waschen. Sie freue sich schon darauf, sagt sie leise.

Julia hat sich verändert. Ihre langen blonden Haare sind zu einer stufig-schicken Kurzhaarfrisur gestutzt – erste Folge ihres Praktikums. Ihre Fingernägel, sonst meist aufwändig gestaltet, sind kurz geschnitten – das ist praktischer bei der Arbeit. Etwas nervös trommelt Julia mit ihnen auf die Tischplatte. Ihr Arbeitskundelehrer, Norbert Gundacker, ist zu Besuch an ihrer Praktikumsstelle. Noch hat sie kaum einen der Bögen in ihrem Praktikumsberichtsheft ausgefüllt. Doch Lehrer Gundacker macht keinen Stress. „Gewöhn dich erst einmal ein“, rät er. Julia entspannt sich. Doch, sie könne sich nun vorstellen, sich nach der Schule für eine Friseurlehre zu bewerben, sagt sie. Ihr Lehrer freut sich.

Julia, die erst seit Beginn dieses Schuljahres an der Werner-Stephan-Oberschule ist, kommt aus Kasachstan. Dort war sie auf dem Gymnasium. Julia ist klug und ehrgeizig. Ihre Praktikumsstelle hat sie sich selbst gesucht. Eine Stunde Fahrzeit braucht sie von ihrem Wohnort bis zu dem Spandauer Friseursalon. Nach der Arbeit besucht sie noch einen Deutschkurs – auch selbst gesucht und selbst finanziert. Denn es sind Julias Probleme mit der deutschen Sprache, die sie hier zur Hauptschülerin machen. Bisher hat sie von einer Ausbildung zur Bürokauffrau geträumt. Norbert Gundacker ist erleichtert darüber, dass Julia diesen Traum aufgegeben hat. Denn Chancen hätte sie mit ihren schlechten Deutschkenntnissen und einem Hauptschulabschluss kaum.

Ein kleines Ladenlokal in einem schicken Altbau nahe dem Stuttgarter Platz in Charlottenburg ist Roberts Praktikumsstelle. Hier arbeitet die Firma Engel Computer. Ihr Angebot: „Planung, Errichtung und Zertifizierung von strukturierten IT- und Telekommunikationslösungen, aktive und passive Netzwerktechnik, Konfiguration, Programmierung und Medientechnik“. Kisten und Kartons voller Computerinnereien stapeln sich in den Ladenräumen. In einer Ecke hat Robert einen eigenen Computerarbeitsplatz. Ein 3-D-Bild des geheimnisumwitterten versunkenen Inselreichs Atlantis hat er sich als Bildschirmschoner geladen. Im Internet sucht Robert derzeit nach günstigen Angeboten für PC-Teile. Sein Chef betreut unter anderem das Computernetzwerk der Werner-Stephan-Hauptschule. So kam es zu dem Praktikumsangebot.

Rainer Engel ist zufrieden mit Robert. „An seinem ersten Tag habe ich zu ihm gesagt, ich hätte gehört, dass er sich mit Computern gut auskenne“, erzählt Engel. Roberts Antwort war: „Gut ist untertrieben.“ Engel beeindruckt das Selbstbewusstsein des Hauptschülers. Nein, er könne keine Zusammenhänge zwischen den Fähigkeiten seiner Praktikanten und deren schulischer Herkunft erkennen, meint Engel: „Ob ein Praktikant gut oder schlecht ist, hat nach meinen Erfahrungen nichts damit zu tun, ob er vom Gymnasium oder von einer Hauptschule kommt.“ Wichtiger seien persönliches Interesse und Engagement, meint der 32-jährige IT-Unternehmer, der selbst nach dem Abitur an einem altsprachlichen Gymnasium und einem abgebrochenen Studium erst auf einigen Umwegen zu seinem Traumberuf gekommen ist. „Es gibt Hauptschüler, die haben in Deutsch eine Fünf und sind in Informatik super“, so Engels Erfahrung. „Es wäre schön, wenn die Schulen solche Begabungen mehr fördern würden.“

Robert ist so ein Fall. So gut er sich mit elektronischer Kommunikation auskennt, mit der verbalen hapert es. Robert spricht zu schnell, zu undeutlich. Es fällt ihm deshalb schwer, sein Wissen zu vermitteln. „Von seinen Fähigkeiten her könnte er eigentlich auf einer anderen Schule sein“, meint auch sein Lehrer Gundacker. Doch es fällt Robert schwer, sich unter Gleichaltrigen zu behaupten. Er ist keiner von den Coolen. Mit seinen Computerkenntnissen hat er sich in seiner Klasse Respekt verschafft.

Doch um in seinem Traumberuf einen Ausbildungsplatz zu bekommen, reicht ein Hauptschulabschluss kaum aus. Firmenchef Engel beurteilt Roberts Zukunftschancen trotzdem zuversichtlich: „Robert ist eindeutig Techniker“, meint er. Es wäre deshalb falsch, ihn auf einen anderen Beruf umzuorientieren. Selbst ausbilden kann der Firmenchef den Hauptschüler aber nicht: „Das ist für kleine Betriebe zu teuer“, sagt Engel.

Sebastian ist in seinem Element. Mit weißer Mütze und karierter Kochhose empfängt er seinen Lehrer und Praktikumsbetreuer Norbert Gundacker in einer der saubersten Kantinen der Stadt. Sebastian hat einen Praktikumsplatz in einer Kantine der Berliner Stadtreinigungsbetriebe ergattert. Ab acht Uhr morgens steht er in der riesigen Küche und tut das, was er auch sonst am liebsten tut: kochen.

Es ist nicht sein erstes Praktikum als Koch. Sebastians Berufswunsch steht schon lange fest. Fachmännisch erklärt er, was in dieser Kantine anders läuft als bei seinem letzten Praktikum, das er bei einem Großcateringbetrieb der gastronomischen Oberklasse gemacht hat: Bei der BSR muss er weniger frisches Gemüse schnippeln, dafür bekommt er neue Einblicke in andere Bereiche der Arbeit in Großküchen. Sebastian hat Glück. Der Sechzehnjährige nimmt am Förderprogramm des Berliner Netzwerks Hauptschulen teil. Seine Schule hat ihn vorgeschlagen.

Zwanzig große Betriebe wie die BSR, Vattenfall, DaimlerChrysler oder Ikea haben sich in dem Netzwerk zusammengeschlossen. Mit Fördermaßnahmen wie Bewerbungstrainings, Einstellungstests und Mentorengesprächen bereitet das Netzwerk die HauptschülerInnen auf einen Einstieg in betriebliche Ausbildungen vor. Denn der ist für Berliner HauptschulabsolventInnen die immer seltener werdende Ausnahme. Die Mehrheit von ihnen landet nach der Schule in staatlich geförderten Berufsbildungsprogrammen. Sebastian wird bald wieder an einem Einstellungstest des Netzwerks teilnehmen. Er ist aufgeregt, denn er weiß sehr genau, wie viel von seinem Erfolg bei diesen Qualifizierungsmaßnahmen abhängt. Und er kennt seine Qualitäten ebenso wie seine Schwachstellen.

Nur zögerlich schiebt Sebastian deshalb sein Berichtsheft dem Lehrer über den Tisch. Zwar hat er schon recht fleißig Berichte geschrieben. Doch Rechtschreibung ist nicht seine Stärke. In Mathe hingegen ist er gut. Im Mentorenprogramm bekommt er deshalb zusätzliche Förderung und Beratung. Um seinen Traum von einer Ausbildung zum Koch tatsächlich verwirklichen zu können, braucht Sebastian trotz allem auch Glück. Denn von den 174 Auszubildenden, die die BSR derzeit hat, sind gerade mal ganze drei Hauptschulabsolventen. Doch es gibt auch eine gute Nachricht für Sebastian: Alle drei sind im gastronomischen Bereich beschäftigt.