Hilflose Helfer und das Elend der Welt

THEATER Einst mit großen Plänen, doch inzwischen ohne Illusionen: Roland Schimmelpfennigs Entwicklungshelferstück „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ hatte doppelte Premiere am Deutschen Theater Berlin und am Thalia Hamburg

Vier Freunde. Ein Abendessen, bei dem Wein fließt, die Zungen lockern sich, die Dialoge flutschen

Vielleicht ist alles nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme? Verschenkte Zeit, weil man irgendwo in der Dritten Welt Menschen rettet, die sich hinterher gegenseitig umbringen. Ökonomisch vergeblich, weil nicht nur die Armen der Ärmsten, sondern auch man selbst mit leeren Händen dasteht, während andere sich ein Haus, ein Kind, eine Garage zugelegt haben.

„Es war ein Fehler“, fasst Martin seine sechs Jahre als Entwicklungshelfer zusammen, „aber gut: Wer weiß, was aus uns geworden wäre, wenn wir hier geblieben wären.“ Ein Opfer der Ärzteschwemme? Oder Chefarzt, wie Frank es wurde.

Frank, Martin und ihre Frauen – zum ersten Mal treffen sie sich wieder: zwei befreundete Paare, Ärzte, deren Wege sich trennten. Ein Abendessen, bei dem Wein fließt, die Zungen lockern sich, die Dialoge flutschen, und doch wirkt die eigentlich wohlbekannte Form der Wohnzimmerschlacht in diesem Stück erst einmal ungewohnt.

Man kennt und schätzt bei Roland Schimmelpfennig vor allem sein kompositorisches Bewusstsein, mit dem seine Stücke dem Lauf des Schicksals beiwohnen. In dem viel gespielten Stück „Der goldene Drache“ erzählt er vom Nebeneinander eines illegalen asiatischen Kochs, seiner Schwester und den Bewohnern im Haus über dem Thai-Restaurant. Sie bleiben sich Fremde, und doch korrespondiert jeder Schritt mit den fremden Ereignissen um sie herum.

Das neue Stück „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ speist sich aus der Enge eines aufgesetzt freudigen Wiedersehens von vier Menschen, die mit großen Plänen auseinandergingen. Im Stücktitel taucht Gott noch auf, dessen Allmacht und Existenz angesichts des Elends der Welt gemeinhin infrage steht: Warum lässt er das alles zu? Die Antwort gibt dann aber nur der Gott im weißen Kittel, oder wie Frank es sagt: „Was passiert, dafür kann keiner was.“

„Peggy Pickit“ ist ein Sammelsurium an Motiven. Umso überraschender, was auf der Bühne an Symbolkraft herauszuholen ist: In Martin Kušejs Uraufführung am Deutschen Theater Berlin ist schon das Bühnenbild suggestiv aufgeladen. Weit hinten eine Wand, dunkel wie ein schwarzes Loch. Vorn grellweiß und ohne jeden Schattenwurf das Licht der Neonröhren. Jedes Detail, jede Geste gewinnt Aufmerksamkeit in dem ausbalancierten Spiel von Maren Eggert, Sophie von Kessel, Norman Hacker und Ulrich Matthes.

Zwei Puppen, eine weiße Barbie und eine afrikanische Holzfigur, werden gegenseitig als Geschenke überreicht. Und es drängen Gerüchte ein: dass Annie, das kranke Patenkind, in den Wirren vor Ort verschwunden ist, vielleicht tot, vielleicht bei Verwandten. „Ich weiß nicht“, heißt es, immer wieder.

In der Welt draußen ist ihnen etwas entglitten, und das greift sehr glaubhaft ihr Selbstverständnis an. Trotzdem fehlt dem Abend etwas, und das muss man mehr Schimmelpfennig als Kušej anlasten. Schimmelpfennig legt seine Figuren lebensnah und unspektakulär an. Ihr Alltag ist schnell skizziert, und wo es bei großen Themen unglaubwürdig zu werden droht, lässt er erzählen, statt psychologisch realistisch herzuleiten.

„Peggy Pickit“ entstand ursprünglich am Volcano Theatre im kanadischen Toronto als Teil einer Trilogie, an der auch eine afroamerikanische Autorin und ein kenianischer Autor beteiligt waren. Dem Stück allein mangelt es jedoch an Einbettung, einer anderer Perspektive als die der desillusionierten und verunsicherten Ärztepaare.

Weltveränderung taucht nur als Witz auf: Es war einmal ein Rucksacktourist, der sich in Lagos in die schöne, aber kranke Adisa verliebte. Und weil sie krank war, flog er nach New York, erst hörten ein paar Wenige zu, dann einige hundert. „Und schließlich geschieht etwas Großartiges, wie die Erfindung des aufrechten Ganges oder die Entdeckung, dass die Erde keine Scheibe ist … Es beginnen sich die Dinge zu ändern.“

In der Inszenierung am Thalia Theater Hamburg fantasiert Tilo Werner als Entwicklungshelfer Martin in einer furiosen kleinen Brandrede den Bau von Krankenhäusern herbei. Regisseur Wilfried Minks, mittlerweile 80 Jahre alt, geht spielerischer mit dem Text um und reiht ein paar schöne kleine Miniaturen aneinander. Sein Abend erzählt schmaler, weniger stilisiert.

Das Schlussbild schafft sogar die überraschende Wendung in ein realistisches politisches Bild. Es will keiner schuld sein am Sterben in Afrika. Die beiden Frauen aber hocken auf dem Boden, kleben die zerrissenen Briefe, stecken der kaputten Puppe die Glieder zusammen. Ein Basteln mit Tesa – ein notdürftiges Reparieren der Kollateralschäden, die man eigenhändig angerichtet hat. SIMONE KAEMPF