: Und jetzt die Tabelle: tief im Norden
VERKORKSTE SAISON 30 Jahre nach der Werftenkrise verursacht eine andere Branche Depressionen: der Fußball. Angetreten mit so vielen Klubs wie nie zuvor, hängt der Norden kurz vor Saisonschluss ganz tief hinten drin
VON RALF LORENZEN
Manch einer fühlte sich in der zu Ende gehenden Bundesliga-Saison um 30 Jahre zurückversetzt. Damals erschütterte die Werftenkrise den hohen Norden und es entstand das, was heute als Nord-Süd-Gefälle bekannt ist. Seitdem traut sich kein bekennendes Nordlicht mehr, irgendeine Studie oder Statistik mit Ländervergleichen aufzuschlagen.
Zum Glück gab es ein Ranking, das lange zumindest die Gefühlslage der Hanseaten einigermaßen stabil hielt – die Bundesligatabelle. In den 80er-Jahren boten der HSV und Werder Bremen den Bayern mehr als Paroli, später bekamen sie Gesellschaft vom VfL Wolfsburg und dem wiedererstarkten Hannover 96. Und als im letzten Jahr auch Eintracht Braunschweig nach 28 Jahren wieder ins Oberhaus zurückkehrte, war der Norden dort so stark vertreten wie niemals zuvor. Leider nur quantitativ. Bis vor einer Woche waren vier der fünf Nordklubs noch vom Abstieg bedroht, zwei Spieltage vor Schluss sind dies immer noch der HSV und Eintracht Braunschweig.
Spötter reden schon von ersten Folgen des Klimawandels. Wenn man den Verantwortlichen der Klubs bei der Ursachenanalyse zuhört, liegt es eher an einem neuen Strukturwandel, dem der Norden mit einem Reformstau hinterherhechelt. Der HSV bereitet sich parallel zum Abstiegskampf gerade auf die Umwandlung vom Verein in eine AG vor, Hannovers Präsident Martin Kind wettert seit langem gegen die 50+1-Regelung, die es Investoren erschwere, in seinen Klub einzusteigen. Und Werders Präsident Klaus-Dieter Fischer stellte bei seiner Rücktrittsankündigung Tabubrüche in Aussicht wie den Verkauf des Stadionnamens oder von Anteilen an strategische Partner. Beim Blick auf die Etats von Klubs wie Mainz 05, den FC Augsburg oder Borussia Mönchengladbach, die um Europapokalplätze mitspielen, entpuppt sich diese Strukturdebatte allerdings schnell als Ablenkung von falschen Entscheidungen und Erwartungen.
Bei Hannover 96 führte die zweimalige Teilnahme an der Europa-League zum zwischenzeitlichen Realitätsverlust. Präsident Martin Kind verkannte, dass die klug zusammengestellte und eingestellte Mannschaft schon am oberen Limit spielte und brachte die Champions League ins Spiel. Doch dann verließ mit Sportchef Jörg Schmadtke, einer der Baumeister des Erfolgs, den Klub. Dem anderen, Trainer Mirko Slomka, gelang die Umstellung auf eine neue Spielweise nicht und er verlor zunehmend die Bindung der Mannschaft. Umso mutiger war die Entscheidung von Präsident Kind und des neuen Sportchefs Dirk Dufner, als Nachfolger einen jungen, unbekannten Trainer mit Perspektive zu verpflichten.
Ein weniger glückliches Händchen hatte Kind im Umgang mit den Ultras: Die Dauerfehde zwischen Fans und Präsident hat der Mannschaft wertvollen Support gekostet – ein Problem, das man bei Werder Bremen nicht kennt. Sportchef Thomas Eichin und Trainer Robin Dutt hatten das Umfeld früh auf eine Übergangssaison eingeschworen, in der das Mannschaftsgefüge weiter an den geschrumpften Etat angepasst werden musste – immerhin hatten mit Sokratis und Kevin de Bruyne wieder die beiden Besten den Klub verlassen. Abstiegskampf war in dem Konzept zwar nicht vorgesehen, aber trotz zwischenzeitlicher Einbrüche zeigten Mannschaft und Trainer eine Mentalität, die den Klassenerhalt sogar einen Tag früher sicherte als im Vorjahr.
Am deutlichsten klafften Anspruch und Wirklichkeit wieder beim HSV auseinander. Der Verein steht am vorläufigen Endpunkt einer Abwärtsspirale. Drei Trainer versuchten bislang vergeblich, einer von diversen Vorgängern zusammengestellten Mannschaft Leben einzuhauchen. Dazu kamen Formkrisen von Führungsspielern (Rafael van der Vaart) und ein Verletzungspech, das wichtige Spieler ganz oder teilweise lahmlegte (Maximilian Beister, Marcell Jansen, Pierre-Michel Lasogga). Den Verantwortlichen hatte der glückliche 7. Platz aus dem Vorjahr so die Sinne vernebelt, dass von der Champions League gefaselt wurde. So entstand nie eine Situation, in der alle Kräfte gebündelt wurden, um den Worst Case zu vermeiden. Die Abstiegskämpfe der letzten Jahre und die Auseinandersetzungen um die Umwandlungspläne des HSV haben inzwischen auch beim Anhang ihre Spuren hinterlassen.
Dass man eine Saison auch mit der roten Laterne in der Hand zur Party machen kann, zeigt Eintracht Braunschweig, das noch vor sechs Jahren fast in die Vierte Liga abgestiegen wäre. Dort wurde den Fans nie etwas anderes versprochen als Abstiegskampf. Die Art und Weise, wie Mannschaft und Trainer den vom ersten Spieltag angenommen haben, half auch über unglückliche Niederlagen hinweg. Allein die Tatsache, zwei Spieltage vor Schluss immer noch im Rennen zu sein, wird als Erfolg gefeiert. Und vielleicht behält ja doch noch das Fanmagazin Abseits recht, dass in Bezug auf die Konkurrenz aus Hamburg und Nürnberg schreibt: „Wenn zwei resignieren, freut sich der dritte.“ Und den Sieg im Derby gegen Hannover 96 kann den Fans niemand mehr nehmen.
In der internen Tabelle, die nur Spiele der Nordvereine gegeneinander berücksichtigt, liegt Eintracht Braunschweig auf dem 2. Platz, hinter Werder Bremen, aber noch vor Krösus und Nachbar Wolfsburg. Der Werksklub hatte als einziger aus dem Norden nichts mit dem Abstieg zu tun und kann sogar noch die Qualifikation für die Champions League erreichen. Aber das ist eine andere Geschichte.