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Archiv-Artikel

„Damit die Dinge nicht im Kopf stecken bleiben“

THEATERTREFFEN Alain Platel ist einer der großen Tanztheaterregisseure. Mit „tauberbach“, einem Stück über das Leben auf einer Müllhalde, kommt er zum Theatertreffen. Ein Gespräch über Bach, neue Nationalismen und die Ängste junger Choreografen

Alain Platel

■ 1959 in Gent geboren, gründete Alain Platel 1984 das Tanzkollektiv „Les Ballets C de la B“. Ein hoher Grad an Empathie und an Offenheit für ein oft an den sozialen Rand gedrängtes Leben zeichnet seine Stücke seit bald 30 Jahren aus.

■ Sein Stück „tauberbach“ wird am 10. und 11. Mai beim Theatertreffen präsentiert. Obwohl es von einem Leben mit den Resten dessen erzählt, was andere übrig gelassen haben, obwohl die Kommunikation unter seinen Protagonisten oft seltsam verzerrt ist, gibt es doch viele Momente von Mut, Stolz und Glück zu entdecken.

INTERVIEW ASTRID KAMINSKI

taz: Herr Platel, es geht Ihnen wie vielen Menschen: Sie kommen immer wieder auf Bach zurück.

Alain Platel: Ich war immer besessen von Bach. Nicht auf die Art, dass ich obsessives Verhalten gezeigt hätte, aber diese Musik habe ich immer geliebt. Dieses Gefühl möchte ich weitergeben. Ich finde, dass jeder Bach singen oder pfeifen sollte. Für mich ist er auch ein Volksmusiker, nicht nur ein purer Mathematiker.

Wenn nicht Mathematik und Reinheit, was finden Sie dann bei ihm?

Das ist schwierig – vielleicht: Ich komme schlecht zurecht mit der Frage, warum wir sterben, und die Musik von Bach erleichtert es mir, das auszuhalten. Wenn ich die Musik höre, gibt mir das Trost, eine Art „Es ist okay“-Gefühl.

Können Sie sich vorstellen, diese Art Trost nicht bei Bach zu suchen, sondern selbst als Choreograf herzustellen?

Momente von dem, wonach Sie fragen, entstehen in den Proben, in der Bewegungssuche. Die Suche nach dem Moment in der Arbeit, an dem wirklich etwas passiert, hat auch mit einer Art Erlösung zu tun.

Sie waren 2004 mit „Wolf“ schon einmal zum Theatertreffen eingeladen, zehn Jahre später kommen Sie mit „tauberbach“ zurück. Wie würden Sie selbst Ihren Wandel als Choreografen in dieser Zeit beschreiben?

Wenn ich zurückblicke, fällt mir auf, dass „Wolf“ das letzte Stück war, in dem ich den persönlichen und sozialen Hintergrund der Tänzer verwendete. Das nächste Stück war dann „VSPRS“, 2006. Ich fragte darin nicht mehr nach den Unterschieden zwischen uns, sondern vielmehr nach dem, was wir vielleicht essenziell gemeinsam haben. Wir kommen von unterschiedlichsten Erdteilen, und mich interessierte: Was, außer dem Fakt, dass wir leben, teilen wir? So waren die Charaktere auf der Bühne nicht mehr Leute, die aus Vietnam, Argentinien, Brasilien oder Israel usw. kommen, sondern einfach Menschen. Der Wendepunkt dazu war wohl das Fahnenverbrennen in „Wolf“, ein sehr zerstörerischer Akt.

Es wurden die israelische und die US-amerikanische Flagge verbrannt. Ich wollte immer wissen, warum Sie damals zu so einem Statement wie aus irgendeiner arabischen Verschwörungstheorie gegriffen haben.

Wir machten „Wolf“ im Jahr 2003, dem Beginn des Irakkriegs, der Zeit der Zweiten Intifada, des israelischen Mauerbaus. Das waren damals die Kräfte, die für die absolute Dominanz der Macht standen. Dagegen haben wir uns gewandt. Aber das Fahnenverbrennen war kein Akt gegen bestimmte Staaten, sondern einer gegen jegliche Form von dominanten Nationalismen. Es tanzten israelische Tänzer in dem Stück, es spielten amerikanische Musiker, daher wurden die Zeitthemen damals auch persönlich. Gleichzeitig konnten wir die Fragen nach Schuld und Verantwortung teilen. Aber darüber hinaus hat der Akt, eine Fahne zu verbrennen, etwas sehr Gewalttätiges. Es geht unter die Haut, lässt dich nicht in Ruhe. Ich wollte irgendwie spüren, was das ist.

Sie haben viel Kritik dafür bekommen.

Ja, vor allem aus Künstlerkreisen in Flandern. Flaggen hielten meine Kritiker für rückständige Symbole von Nationalismen. Das war 2003. Ein paar Jahre später, nachdem sich Spannungen zwischen Flamen und Wallonen in Belgien entwickelten, haben dieselben Künstler in Brüssel belgische Fahnen aus ihren Fenstern gehängt. Überall können wir das derzeit feststellen. An einem Tag sind die Leute Künstler, Bauern, Apotheker oder Uniprofessoren, einen Tag später stehen sie mit der Waffe bereit, um ihre Flagge zu verteidigen. Es macht mir große Angst, dass es immer noch in uns ist …

Es heißt, Sie würden nach einer Bastardsprache suchen, einer „nicht von der Zivilisation berührten“ Sprache.

Der Begriff ist entstanden, weil ich immer wieder gebeten wurde, meinen Tanzstil zu beschreiben. Dabei habe ich gar keinen. Ich kann nur auf meine Methoden referieren. Ich lasse Tänzer mit ganz unterschiedlichen Ausbildungen kleine Phrasen entwickeln, die sie sich dann gegenseitig beibringen müssen. Dadurch gibt es dann eine HipHop-Phrase von einem Balletttänzer oder vice versa und so weiter. Das nenne ich den Bastardtanz.

So könnte man dann den zeitgenössischen Tanz im Allgemeinen nennen.

Ja, aber im Unterschied zu anderen Choreografen würde ich die entstandenen Bewegungen am Ende nie korrigieren oder in eine bestimmte Form gießen.

In „tauberbach“ arbeiten Sie mit Bach-Chorälen, interpretiert von gehörlosen Sängern. Ausgerechnet wenn diese Musik eingespielt wird, tanzt die Gruppe synchron – also gerade da, wo es keine Normwerte gibt. Warum?

Ich wollte herausfinden, ob wir auf die Musik gehörloser Menschen eine Choreografie wie auf gewöhnliche klassische Musik machen können. Das war extrem schwierig, denn die Tänzer mussten die Gesänge nach den Maßstäben klassischer Musik analysieren, nach Struktur, Phrasen, Intonation, Emotionen. Wir haben uns gefragt, ob es möglich ist, einen Annäherungswert zu finden.

Sie beherrschen die Gebärdensprache und haben Sie schon in Bühnenstücken eingesetzt. Warum nicht in „tauberbach“?

Die Gebärdensprache ist eine der schönsten Sprachen der Welt, aber nachdem wir in „Wolf“ damit gearbeitet hatten, stellte ich fest, dass es zu einer Mode wurde.

Theatertreffen

■ Am 2. Mai hat das 51. Theatertreffen begonnen, mit „Zement“, einer Inszenierung des 2013 verstorbenen Dimiter Gotscheff. Ihm zu Ehren werden auch das Deutsche Theater und die Volksbühne seine Inszenierungen zeigen und im Haus der Berliner Festspiele erinnern Ausstellungen an ihn.

■ Eingeladen sind Frank Castorf („Reise ans Ende der Nacht“), Herbert Fritsch („Ohne Titel Nr. 1“), Karin Henkel („Amphitryon und sein Doppelgänger“), Alvis Hermanis („Die Geschichte von Kaspar Hauser“), Alain Platel („tauberbach“), Matthias Hartmann und Doron Rabinovici („Die letzten Zeugen“) und eindrucksvolle Debüts von Susanne Kennedy („Fegefeuer in Ingolstadt“) und Robert Borgmann („Onkel Wanja“).

■ Zum Stückemarkt kommen Projekte der hier noch kaum bekannten Künstler Mona el Gammal, Chris Thorpe und Miet Warlop.

Sie haben vor Ihrer Karriere als Choreograf als Heilpädagoge gearbeitet. Auch im Zusammenhang mit der Entwicklung von „tauberbach“ haben Sie mit Ihren Tänzern Bewegungen von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und Behinderungen studiert …

Das stimmt, aber nicht, um sie zu imitieren, sondern damit wir uns in die Bewegungen einleben können und herausfinden, was sie mit uns zu tun haben. Es geht darum, eine Verbindung zu etwas aufzubauen, was sich eben nicht durch Worte ausdrücken lässt. Wir wollten versuchen, die Menschen, die ihre Bedürfnisse nur durch bestimmte körperlichen Ausdruckmöglichkeiten geltend machen können, zu verstehen. Es ist unsere Art, über diese Bedürfnisse zu kommunizieren.

Sie sind einer der letzten Exegeten dessen, was wir seit Pina Bausch unter dem Begriff des Tanztheaters – getanzte Narrative, meist zu Musik, mit relativ großen Ensembles – verstehen. Ist dieses Genre am Ende?

Was mich interessiert, ist die Idee zu einem Stück, nicht die Form. Ich erinnere mich an eine Diskussion, zu der ich eingeladen wurde: über das „Ende der großen Form“. Das klingt für mich ähnlich wie Ihre Frage. Und das Interessante daran ist ja, dass es offensichtlich ein Problem gibt. Anscheinend sind die großen Bühnen leer, die jungen Choreografen wollen eher in kleinen, intimen Formaten arbeiten.

Sie wollen verstehen, was mit ihnen passiert auf der Bühne. Und vielleicht wollen sie, auch aus finanziellen Gründen, keine Verantwortung für größere Kompanien mehr übernehmen. Weder als Unternehmer noch als Kollektiv.

Ja, aber auch die Sprache, sich an ein großes Publikum zu wenden, fehlt. Die Tänzer suchen einen Rahmen, in dem sie im direkten Austausch und Kontakt zum Publikum stehen können. Ich akzeptiere das, aber der Tanz hat dadurch auch ein Publikum verloren. Viele Leute lieben es, mit fünfhundert anderen im Theater zu sitzen. Sie sind nicht dumm oder dumpf, sondern oft sehr offen. Aber sie suchen eine Erfahrung, die sie durchleben können. Wenn sie nur mit Fragen des Metiers konfrontiert werden, finden sie es vielleicht langweilig, das ist verständlich. Die jungen Tänzer wollen die richtigen Fragen stellen und die richtigen Formate dazu finden, aber keine Fehler dabei machen. Ja, ich vermisse die Leidenschaft. Tanz kann nicht komplett kontrolliert werden, das ist einer seiner wesentlichen Bestandteile.

Gibt es darum so wenig Ironie in ihren Werken? Ironie ist ja auch eine Art der Kontrolle.

Kürzlich hat mir jemand etwas wirklich Überraschendes gesagt. Er sagte: „Deine Aufführungen stehen nicht in Anführungszeichen“. Ich habe mit den Jahren tatsächlich die Anführungszeichen weggelassen. Ich möchte, dass die Dinge wirklich erlebt, gefühlt werden können. Dass sie nicht im Kopf stecken bleiben.