: Von Politik, Liebe und Stromklau
ABENTEUER Ein Interview mit dem Rätekommunisten Paul Mattick bietet Einblicke in die Weimarer Republik und das Amerika der Großen Depression
Auf der Suche nach Ahnen stieß die antiautoritäre Linke von 1968 schnell auf die Rätekommunisten der 1920er Jahre. Sie hatten früh mit der Sowjetunion gebrochen und setzten auf die Selbstorganisation der Arbeiter; alles Autoritäre, auch und gerade in der Arbeiterbewegung selbst, war ihnen zuwider. So wurde auch Paul Mattick (1904–1981) international als ein Autor bekannt, der mit den dominierenden Strömungen der Arbeiterbewegung genauso schonungslos umging wie mit den bestehenden Verhältnissen.
Mattick zählte zur praktisch ausgestorbenen Spezies des autodidaktischen Theoretikers aus dem Proletariat. Er wurde weder Professor noch Berufspublizist, auch wenn seine Schriften in den 1970er Jahren bei Suhrkamp und Fischer verlegt wurden.
In dem erst jetzt veröffentlichten biografischen Interview, das der Hannoveraner Politologe Michael Buckmiller 1976 mit ihm führte, wird dies als Vorzug deutlich. Mattick konnte als Theoretiker aus Erfahrungen in radikalen Arbeitermilieus in Deutschland und Amerika schöpfen, die vielen Intellektuellen meistens verwehrt bleiben.
In der Novemberrevolution fängt der junge Mattick Feuer und schließt sich der Jugendorganisation der KAPD an, einer linken, zeitweilig durchaus starken Abspaltung von der moskautreuen KPD. Seine Erinnerungen daran bieten „ein Zeugnis aus einer anderen Epoche“, wie die Herausgeber schreiben. Linksradikalismus war damals keine jugendliche Subkultur, sondern Praxis von zigtausend Arbeitern, die nach 1918/19 eine Weile lang hoffen, die sozialdemokratisch eingehegte Revolution doch noch zur Räterepublik fortführen zu können.
Der Schritt vom Streik zum bewaffneten Aufstand scheint klein, „Expropriationsgruppen“ finanzieren die Bewegung mit Banküberfällen, Mattick selbst hält sich mit Fabrikjobs und kleinen Gaunereien über Wasser. In dem Interview kommt all das zur Sprache, was in der einschlägigen Literatur selten Thema ist: das Alltagsleben, Liebesbeziehungen, Spannungen zwischen Alten und Jungen sowie zwischen Arbeitern, Künstlern und Intellektuellen.
Nach dem Abflauen der revolutionären Welle geht Mattick 1926 nach Amerika, wo er Kontakt zu den Industrial Workers of the World (IWW) aufnimmt. Die Zeit der Großen Depression, so Mattick, sei „wahrscheinlich die schönste Periode“ seines Lebens gewesen, in der er rund um die Uhr in der autonomen Arbeitslosenbewegung Chicagos aktiv war. Schon die Schilderung dieser auch im linken Gedächtnis kaum präsenten Bewegung, die mit Besetzungen leerstehender Geschäfte, Stromklau und Volksküchen an die italienische Autonomia erinnert, lohnt die Lektüre.
Für das exilierte Frankfurter Institut für Sozialforschung, in dessen Zeitschrift er gelegentlich Bücher besprach, verfasste Mattick 1936 eine Studie darüber. Sie schien dem vorsichtigen Institut zu heikel und blieb bis 1969 unveröffentlicht.
Im Interview zeigt sich Mattick illusionslos, aber nicht zynisch. Hoffnung setzt Mattick nun nur noch in die ökonomische Krise, deren Wiederkehr er 1969 in seinem Hauptwerk „Marx und Keynes“ vorhersagte, als viele dem staatlich regulierten Kapitalismus immerwährende Stabilität zutrauten. Das Buch hat nur einen Mangel: Matticks fesselnder Lebensbericht endet in den 1940er Jahren. Wie zum Trost dafür soll bald die deutsche Übersetzung seines letzten, posthum zusammengestellten Buchs erscheinen. FELIX BAUM
■ Marc Geoffroy, Christoph Plutte (Hg.): „Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer. Paul Mattick im Gespräch mit Michael Buckmiller“. Unrast, Münster 2013, 180 S., 16 Euro