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Archiv-Artikel

Siemens in Einkaufslaune

EXPANSION Der Großkonzern umwirbt die französische Industriefirma Alstom. Statt Siemens zu stabilisieren, sorgt das Angebot von Chef Kaeser für Unruhe

AUS MÜNCHEN K. ANTONIA SCHÄFER

Was ist nur in Siemens-Chef Joe Kaeser gefahren? Seit er vor knapp einem Jahr sein Amt angetreten hat, versucht er, das Unternehmen zu seinen Kernkompetenzen zurückzuführen – eigentlich. Doch jetzt wirbt er um den französischen Riesen Alstom, ein Industrieunternehmen, das unter anderem mit Hochgeschwindigkeitszügen, Stromtrassen und Wasserturbinen sein Geld verdient. Zehn bis elf Milliarden Euro bietet Siemens den Franzosen voraussichtlich. Die endgültige Summe steht noch nicht fest, wohl aber, dass Kaeser sich in der Öffentlichkeit aufführt, als hinge das Wohlergehen von Siemens vom Kauf der französischen Firma ab. Selbst bei Frankreichs Staatschef François Hollande ist er auf dessen Einladung hin schon vorstellig geworden, um seine Pläne darzulegen.

Tatsächlich hat der angestrebte Deal seinen Reiz. Siemens will von den Franzosen die umfassende Energiesparte übernehmen und ihnen im Gegenzug den Bereich Schienen und Züge überlassen – ein Geschäftsfeld, auf dem die Deutschen zuletzt vor allem durch Probleme bei der ICE-Produktion auf sich aufmerksam machten. So sollen zwei Großkonzerne entstehen, gerne European champions genannt. Deutsche wie französische Politiker träumen bereits von zwei neuen EADS.

Doch gleichzeitig birgt Alstom große Gefahren für Siemens. Dass sich ausgerechnet jetzt neben den Deutschen auch noch die Amerikaner von General Electrics (GE) um die Franzosen bemühen, liegt vor allem an einem: Alstom steht wirtschaftlich ziemlich schlecht da. Ob Siemens diese strukturellen Probleme tatsächlich lösen könnte oder sie sehr teuer bezahlen muss, ist völlig offen. Bereits mehrfach hat Siemens in den vergangenen Jahren Firmen gekauft und wenig später mit zum Teil großen Verlusten wiederabgestoßen. Eigentlich sollte dieser oft wenig durchdacht wirkende Expansionismus mit Kaeser zu Ende sein.

Siemens muss sich entscheiden. Kauft es Alstom, ist der von Kaeser begonnene Weg der Reform, wenn nicht vorbei, so doch zumindest deutlich verzögert. Dabei wollte der einst „Omar Sharif vom Wittelsbacher Platz“ genannte Mann den Konzern eigentlich zu seinen Wurzeln zurückführen, und das heißt vor allem: zu Verlässlichkeit und Effizienz.

Siemens war ursprünglich eines der typischsten deutschen, wenn nicht gar der Prototyp eines deutschen Unternehmens. Vor 165 Jahren wurde der Betrieb als „Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske“ in Berlin gegründet. Ziel war, wie es auf der Firmenwebsite heißt, ein „Weltgeschäft à la Fugger“. Aus dem Kleinunternehmen wurde ein Konzern, der heute 370.000 Mitarbeiter in 190 Ländern beschäftigt.

Doch bei diesem rapiden Wachstum ist die Identität auf der Strecke geblieben, wie eine Studie belegt. Dafür haben die Zeitgeschichtlerin Cornelia Rauh und der Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff die Konzerngeschichte ab 1981 aufgearbeitet – im Auftrag von Siemens, aber wissenschaftlich völlig unabhängig, wie sie betonen. In einem Interview 2012 sagte Berghoff, der sich nicht mehr öffentlich äußern will, der Konzern habe sich in den vergangenen 30 Jahren „so stark gewandelt, dass er trotz aller Kontinuität an manchen Stellen kaum wiederzuerkennen ist“. Früher sei Siemens von Wettbewerb verschont gewesen und habe etwa exklusiv die Bundespost beliefert. Ähnlich komfortabel scheint das Leben für die Simensianer gewesen zu sein, wie Berghoff erzählt: „Das war nah am Beamtentum.“

Doch als mit Privatisierung und Globalisierung plötzlich Wettbewerbsdruck aufkam, war das bequeme Leben vorbei. Immer wieder stellte sich der Konzern neu auf, setzte sich neue Leitlinien und neue Chefs an seine Spitze. Gleichzeitig kamen immer öfter negative Schlagzeilen auf über unlauteren Waffenhandel, Stellenabbau und Preisabsprachen, bis ab 2006 die Korruptionsaffäre die Führungsspitze des Konzerns erneuerte.

Doch obwohl mit Peter Löscher erstmals ein Externer das Ruder übernahm, verbesserte sich die Situation des Konzerns nicht – im Gegenteil. Kritiker werfen ihm vor, auf Kosten der Beschäftigten nur auf kurzfristige Rendite gesetzt zu haben. Tatsächlich lag die Umsatzrendite unter dem langjährigen Chef Heinrich von Pierer meist noch bei drei Prozent. Löscher hingegen versprach immer neue Höchststände, zuletzt zwölf Prozent – die der Konzern jedoch nicht erreichte. Mit Joe Kaeser sollte eigentlich ein Stabilisierer an die Spitze von Siemens treten. Doch spätestens seit er um Alstom wirbt, scheint diese Mission in Gefahr.

Manche Beobachter vermuten, dass Kaeser sich dessen bewusst ist und Alstom in Wirklichkeit gar nicht kaufen möchte. Durch das überraschende Auftreten von GE sei Siemens aber gar nichts anderes übrig geblieben, als gegen den Konkurrenten zu bieten. Zudem habe die französische Regierung Kaeser und Co. bedrängt, sich einzubringen. Die Offerte wäre damit vor allem ein an Amerika gerichtetes Zeichen, um zu zeigen, dass Siemens den europäischen Markt nicht kampflos überlässt.

Obwohl die Politik sich für Siemens einsetzt, scheint Alstom GE als Käufer zu bevorzugen. Vor zehn Jahren, als der französische Konzern ebenfalls in einer Krise steckte, warb Siemens schon einmal um ihn – vergeblich. Der damalige, immer noch Siemens-feindliche Chef ist heute noch im Amt und hat laut übereinstimmenden Medienberichten den Verwaltungsrat ganz auf GE getrimmt. Siemens’ Expansionspläne könnten also scheitern. Sollte das so kommen, gäbe es wohl nicht nur traurige Gesichter in München.