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Archiv-Artikel

Worte im Stadtraum

NEUERSCHEINUNG Poesie und harte Fakten: Heide Marie Voigts „Zwiesprache Lyrik“ ist ein wirklich besonderes Bremen-Buch zum Themenbereich Integration

Von HB
Voigt animiert Kinder dazu, ihre Mehrsprachigkeit „als Schatz“ zu erleben

Bremens Antwort auf Thilo Sarrazin heißt Heide Marie Voigt. Der Vergleich ist so unmöglich wie das Sarrazin’sche Hypothesen-Tohuwabohu – doch immerhin treffen sich die Interessen des Ex-Bundesbankers und der pensionierten Lehrerin beim Thema Integration. Wobei Voigts Blick darauf die Bereitschaft beinhaltet, Bereicherung wahrzunehmen. Ihr jetzt im Sujet-Verlag erschienenes Buch „Zwiesprache Lyrik“ zeigt das an einem in der Praxis erprobten Poesie-Projekt.

In Bremen leben Menschen aus 173 Staaten. Voigt hat Gedichte in 32 der somit an der Weser gesprochenen Sprachen auf großformatige Banner gedruckt und einige Monate öffentlich ausgehängt – nicht zuletzt an viel befahrenen Straßen in Stadtteilen, in denen Lyrik nicht eben zum Alltag gehört. Voigt nennt ihr so entstandenes Poesie-Netzwerk „soziale Plastik“ – angelehnt an Joseph Beuys und unterfüttert mit Fakten, die im nun vorliegenden Buch in einem Atemzug mit der konkret präsentierten Lyrik zitiert werden.

Dabei lernt man unter anderem, dass in den meisten Stadtteilen das statistische Verhältnis zwischen Kindern und registrierten Autos bei eins zu drei liegt, zu Gunsten der Fahrzeuge. Wobei dieses Verhältnis auf den ersten Blick dort im direkten Wortsinn humaner zu sein scheint, wo die ethnische Vielfalt am höchsten ist: In Gröpelingen verdoppelt sich der Kinderfaktor auf ein Verhältnis von zwei zu drei, in der Vahr mit den dort vertretenen 112 Ursprungsländern gibt es „lediglich“ doppelt so viele Autos wie Kinder. Das Gegenbeispiel findet sich, im automäßig keineswegs zurückhaltend ausgestatteten Schwachhausen: Hier leben Menschen aus sogar 118 Staaten. Die Kinder/Auto-Korrelation ist offenbar doch eine eher von der Einkommenshöhe abhängige Größe und eignet sich kaum zur Ethnisierung. Eine Erkenntnis, die wiederum weit weg von Sarrazin führt.

Voigt, schon lange als Galeristin in Kattenturm aktiv, versucht mit Schulprojekten, Kinder zum Dichten zu animieren – und dabei gegebenenfalls gerade ihre Mehrsprachigkeit „als Schatz“ zu erleben. Bei „Lyrik auf der Leiter“ lernten die Kinder, ihre Worte in aller Öffentlichkeit wichtig zu nehmen. An einer Findorffer Mauer wiederum stand – wie alle ausgewählten Texte zweisprachig – zu lesen: „leben/ das ist improvisieren/so sanft/ dass selbst die Fingerspitzen/ die Klaviatur der Ewigkeit/nicht berühren“ – ein Text des aus Lettland stammenden Leons Briedis, den man kitschig oder ansprechend finden kann. Die Wirkung solcher Worte ist naturgemäß kaum zu quantifizieren, Voigt versuchte es dennoch: In 200 Straßen-Interviews ließ sie SchülerInnen eines Soziologie-Leistungskurses ergründen, wie die Gedichte ankamen. Das Resümee verhehlt nicht, dass viele der Befragten ein schlichtes „egal“ äußerten. Ausgerechnet im eher prosaisch beleumundeten Obervieland jedoch entstand die Initiative, Beiratssitzungen künftig mit einem Gedicht zu eröffnen. HB