: Zwei Wege als historische Chance
Der Erziehungswissenschaftler Reiner Lehberger fordert die SPD auf, in der Schulstrukturdebatte den Kompromiss mit der CDU zu schließen. Nur für ein „Zwei-Wege-Modell“ gebe es in der Bevölkerung eine Mehrheit – nicht aber für eine „Schule für alle“
INTERVIEW: KAIJA KUTTER
taz: Herr Lehberger, Hamburgs SPD streitet intern um die künftige Schulstruktur. Sie sitzen für die Partei als Experte in der Schul-Enquete-Kommission. Warum favorisieren Sie das Zwei-Säulen-Modell?
Reiner Lehberger: Weil wir grundlegende Schulreformen nur im Einklang mit der Bevölkerung und der Mehrheit der Eltern durchführen sollten, die für ihre Kinder das Beste suchen. Für eine Schule für alle sehe ich keine Mehrheit. Insofern kann ein Zwei-Wege-Modell grundlegende Probleme lösen. Und das absehbar mit einer politischen Mehrheit. Die historische Chance, dass die CDU sich bewegt, sollten wir nutzen. Ich spreche vom Zwei-Wege-Modell, weil es zwei Wege zum Abitur bietet.
Ist es sicher, dass der zweite Weg zum Abi führt?
Zumindest sollte die SPD dies fordern. Wir brauchen einen höheren Anteil von Abiturienten in Wirtschaft und Gesellschaft und schöpfen unsere Bildungspotenziale bei weitem nicht aus.
Sollte es den Hauptschulabschluss weiter geben?
Das kann Hamburg nicht allein entscheiden. Aber wir müssen das Bildungsniveau heben und möglichst viele mittlere und höhere Abschlüsse erzielen. Der Hauptschulabschluss ist eher ein Hindernis, um in das Erwerbsleben einzutreten. In Hamburg erhalten nur 15 Prozent damit einen Lehrvertrag.
Soll das Zwei-Wege-Modell ein Übergang sein oder dauerhaft?
Zumindest ist es ein fairer historischer Kompromiss zwischen den großen Parteien. Es spricht für die SPD nichts dagegen, die Schule für alle‘ als Langzeitperspektive beizubehalten. Sie bietet, das zeigen andere Länder, eine gute Möglichkeit, zu guten Leistungen und besserer Abkopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu kommen. Ich persönlich sehe das auch so.
Dann liegt es nahe, dass die SPD im Dezember dafür votiert.
Als Langzeitperspektive ist dies zu begrüßen, aber es muss mit dem Zwei-Wege-Modell einen überzeugenden Weg dorthin geben. Zur Zeit gibt es aber keine Mehrheit für eine Abschaffung des Gymnasiums.
Aber auch Gymnasialeltern klagen. Zum Beispiel über erschöpfte Kinder durch die Schulzeitverkürzung.
Da muss man unterscheiden zwischen der Zustimmung zur Schulform und Aspekten wie der Verkürzung des Gymnasiums von neun auf acht Jahre. Hier gibt es berechtigte Unzufriedenheit, weil die Behörde den Lehrstoff in den Bildungsplänen nicht angemessen reduziert hat. Ich bin sicher, dieser Fehler wird bald korrigiert.
Muss sich das Gymnasium ändern?
Es muss lernen, mit einer größeren Heterogenität der Schülerschaft umzugehen. Dafür müssen neue Konzepte entwickelt werden. Sonst erstickt das Gymnasium an seinem eigenen Erfolg.
Was halten Sie vom Vorschlag der SPD-Frau Sabine Boeddinghaus, die Gymnasien zu verpflichten, alle Schüler aufzunehmen und auch zu halten.
Das könnte zu einer Überforderung der Gymnasien führen. Denkbar wäre zu sagen, man macht noch mal einen Schnitt nach Klasse 6 und danach müssen die Schüler so gefördert werden, dass sie die Schulform erfolgreich durchlaufen.
Ein Knackpunkt: Die Kinder werden nach Klasse 4 in zwei Formen aufgeteilt. Das drückt bei den einen die Motivation.
Mir ist keine Untersuchung bekannt, die zeigt, dass die Aufteilung nach Klasse 6 günstiger ist. Wir haben ein lebendes Langzeitmodell mit einer 6-jährigen Grundschule in Berlin. Dort gibt es keine bessere Prognosesicherheit, keine geringere Abhängigkeit von der sozialen Herkunft und die Leistungen sind nicht besser. Grundsätzlich ist eine längere, gemeinsame Lernzeit sinnvoll, aber wenn Trennung, dann besser nach Klasse 4 als mit der beginnenden Pubertät.
Kritiker fürchten die Zwei-Klassen-Schule. Kinder von gebildeten Eltern kämen noch seltener zur Gesamtschule.
Keiner kann in die Zukunft schauen. Um zu befördern, dass dieser zweite Weg angewählt wird, muss diese neue Schulform attraktiv sein. Sie benötigt eine eigene Oberstufe, die zum Abitur führt. Diese Schule müsste so ausgerüstet sein, dass sie ihre Schüler individuell fördern kann. Ein Vorteil ist auch, dass sie mit 13 Jahren mehr Zeit bis zum Abitur lässt. Und sie müsste eine Schulform mit polytechnischer Ausrichtung sein, die das praktische und theoretische Lernen verknüpft.
Klingt nach Gesamtschule.
In der Tat. Wobei auch die heutigen Gesamtschulen die Potenziale ihrer Schüler noch besser fördern müssen, die Übergangsquote von gymnasialempfohlenen Kindern auf die Gesamtschule ist sehr klein. Die soziale Entmischung findet schon statt. Dass dies zu korrigieren ist, zeigt die Max-Brauer-Gesamtschule, die durch neue pädagogische Konzepte auch gymnasial orientierte Eltern anspricht.
Was wäre, wenn wir alles lassen, wie es ist?
Das wäre dramatisch. Der Handlungsdruck ist groß, weil die Situation an den Hauptschulen unerträglich ist. Wir wissen aus allen Untersuchungen, dass dort kein angemessenes Lernen mehr möglich ist. Es war ein Fehler der SPD-Politik, dass es überhaupt dazu kam. Sie hätte in den 90ern schon alle Haupt- und Realschulen zu integrierten Schulen machen können. Dies hat sie verpasst, deshalb ist sie historisch auch in der Pflicht. Im Übrigen stört mich, dass das Zwei-Wege-Modell hier in Hamburg als CDU-Erfindung gilt. Es ist nach der „Wende“ von dem Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann entwickelt und von der NRW-Kultusministerin Gabriele Behler für die SPD propagiert worden.