Geradliniges Werk

AUSSTELLUNG Die Hamburger Deichtorhallen zeigen eine Retrospektive des dänischen Künstlers Poul Gernes

VON MICHAEL KASISKE

Auf Fotos sieht Poul Gernes nicht aus wie ein Künstler. Die unfrisierten Haare, der zottelige Bart und die lässige bis nachlässige Kleidung erinnern an einen Schrat, gäbe es nicht den offenen, klaren Blick. Seinem Selbstverständnis nach bestand seine Aufgabe darin, die Umwelt mittels Kunst für die Menschen zu bereichern. Das gelang Gernes (1927–1996) auch, wie die erste Retrospektive zeigt, die dem Dänen von den Deichtorhallen Hamburg in Kooperation mit den Kunsthallen Malmö und Lund ausgerichtet wird.

In der großen Halle werden Malerei, Skulptur und jene Interventionen, die der Kunst am Bau zuzuordnen sind, chronologisch präsentiert. Seitenkabinette widmen sich Exkursen wie dem raumfüllenden„Traumschiff“ von 1968 oder Fotos von Hinterteilen, vulgo Ärschen, sowie Filmen. Wer sich von der Kunst nicht angesprochen fühlt, kann sich stattdessen den Tim-und-Struppi-Comics zuwenden, die Gernes 1971 ausstellte. „Gernes weiß nicht, ob er ein Künstler ist“, berichtete damals die dänische Kunstkritikerin Jane Petersen nach einem Interview mit ihm, „aber er ist sich sicher, dass die Voraussetzung für ein Künstlerdasein darin besteht, soziales Verantwortungsgefühl und ein fortgeschrittenes Bewusstsein über die Welt um einen herum zu besitzen.“

Die ersten Bilder des Autodidakten, der als Lithograf ausgebildet wurde, sind gegenständlich, doch die Hinwendung zur Abstraktion folgt bald. Mitte der 1950er Jahre verlässt Gernes die Staffelei und entwirft Stahlrohrmöbel und -lampen. Die Exponate weisen ihn als Zeitgenossen aus. Das Mobiliar zeigt die für die Nachkriegsjahre typische Leichtigkeit und den entsprechenden Schwung. Zu Beginn der 1960er Jahre beginnt er erneut zu malen, fast gleichzeitig mit der Gründung der Eksperimenterende Kunstskole, kurz Eks-skolen, durch ihn und den Kunsthistoriker Troels Andersen.

Das Gegenstück zur Königlichen Kunstakademie nimmt vorweg, was sich andernorts erst 1968 Bahn bricht: Der Unterschied zwischen Lehrer und Schüler schwindet, Filme werden im Kollektiv gedreht. Auch entsprangen die Arbeiten von Gernes und seinen Kollegen wie etwa Per Kirkeby bis in die 1970er Jahre hinein dem Kontext und dem Augenblick, waren nicht auf Herstellung von Kunst und somit nicht auf ein Marktprodukt ausgerichtet.

Bis vor neun Jahren war Gernes hierzulande unbekannt. Erste Ausstellungen 2001 im Hamburger Kunstverein und ein Jahr später im Kunstverein Braunschweig ließen ein weitaus umfangreicheres Werk nur erahnen, die authentische Geradlinigkeit war hingegen offensichtlich. Die von ihm verwendeten Formen wie Kreise, Gitter, Punkte, Streifen oder Vierecke verweisen auf das Bestreben, räumliche Wirkungen zu erzielen, freilich in ruppiger Weise. Im Katalog liest man, dass „die Bilder nicht mit der Palette gemalt sind“ und „mehr Farbanstrich als Farbauftrag“ sind. Dafür spricht auch die Verwendung von industriellen Lackfarben und den in drei Standardgrößen erhältlichen Hartfaserplatten als Bildträger. Gernes widerstrebt der glatte Perfektionismus der Pop-Art-Künstler, er ist Handwerker, der sich zeitlebens kein Atelier einrichtet, sondern da malt, wo gerade Platz ist, und sei es in der Küche.

Wenig erstaunlich ist dann auch, dass sich die Bildmotive dem Betrachter ohne Erläuterung erschließen. Materielle und dekorative Wirkungen stehen im Vordergrund. Kunst soll schön sein, wenn sie gebraucht wird. So sind auch seine Vorschläge für Flaggen der europäischen Föderation zu verstehen.

Gernes’ Brotarbeit als Designer kommt in Buchstaben- und Zahlenbildern oder aus Papier geschnittenen Silhouetten zum Tragen. Die Ausgestaltung von Architektur beginnt mit dem Krankenhaus Herlev, an der er von 1968 bis 1976 arbeitet. In Absprache mit den Architekten verwandelt Gernes den komplett in Weiß geplanten Bau in ein einziges systemisches Gemälde. Riesengroße Zahlen, Zielscheiben, Buchstaben, sogar ganze Gedichte beherrschen die Flure.

Die Patientenzimmer sind nach Norden in Blau gestrichen, nach Süden in Rot, nach Osten in Orange und nach Westen in Grün. Die Leitung des Krankenhauses lässt Gernes gewähren in dem Glauben, dass ein neuer Anstrich aufgeschoben wird, wenn das Haus vielfarbig gestaltet ist. Er kommentiert belustigt, „dass ein solches Argument, das ja nicht gerade als ein Geistesblitz strahlt, wie ein Brecheisen mit großer Schlagkraft wirkt“.

Ab 1980 entzieht sich Gernes dem Verkauf von Bildern, indem er sich ausschließlich der farbigen Gestaltung von Architektur widmet. In dieser Phase werden die Formen zunehmend gegenständlich, auch die kräftigen Farben ebben ab zu Pastelltönen. Sein Bestreben, die Kunst nahe ans Leben heranzuführen, konnte das Gefällige nicht gänzlich verhindern. Das Palads Cinema im Zentrum von Kopenhagen, eine seiner späten Arbeiten, wirkt übertrieben gekünstelt.

Die farbintensiven Werke seiner mittleren Schaffensperiode bilden glücklicherweise den Schwerpunkt im flirrenden Weiß der Deichtorhallen. Ihre Weiträumigkeit tut ein Übriges, dass die großformatigen Serien sich entfalten können. Und damit unmittelbar und herrlich wirken, wie es Gernes als seinen sozialen Auftrag verstanden hat.

■ Bis 16. Januar, Deichtorhallen Hamburg, Katalog 68 Euro (in der Ausstellung 48 Euro)