Cyber-Barbie für Kaspar Hauser

Schon Aldous Huxley hätte aus seiner No-Future-Satire am liebsten eine Musicalfassung gemacht: Nun zeigt das Grips Theater „Schöne neue Welt“ als bunt choreografierten Reigen – mit viel Bühnenaktivismus, ohne dabei jedoch Tiefe zu entwickeln

von ESTHER SLEVOGT

Alle sind immer jung und immer fröhlich, Krieg und Not historisch überwunden. Eigentlich ist es gar nicht schlecht, in dieser schönen neuen Welt. Gelernt wird im Schlaf, die Verantwortung für das eigene Leben ist einem abgenommen. Die Menschen sind durch eine staatlich verordnete Glücksdroge dauereuphorisiert. Sogar mit der Elternschaft müssen sich die vergnügungssüchtigen Bürger nicht mehr herumschlagen: Nachwuchs wird in Brut- und Normcentern im Reagenzglas produziert – strikt nach Bedarf. Weshalb auch Arbeitslosigkeit nicht zu den Problemen in der Welt gehört, die 1932 der Schriftsteller Aldous Huxley erdachte: ein totalitärer Albtraum, in dem US-amerikanischer Konsum- und Glücksterror mit der kommunistischen Zwangsvorstellung einer gerechten, komplett durchgenormten und kontrollierten Gesellschaft verschmelzen. Nur Menschenmodelle der Luxusreihe Alpha spüren gelegentlich die Leere, einen Mangel an Gefühl und inneren Werten.

Im Grips Theater haben Volker Ludwig (Buch), Achim Gieseler (Musik) und Matthias Davids ein Musical aus Huxleys berühmtem Roman gemacht. Damit wurde, wie das Haus am Hansaplatz stolz verkündet, ein Vorhaben realisiert, das einst schon Huxley selbst ins Visier genommen hatte. Der bewährte Grips-Bühnenbildner Mathias Fischer-Dieskau zirkelt auf dem Boden eine runde Spielfläche ab. Hoch über der Szene flimmert ein langes Videoband mit eingespielten Bild- und Textbotschaften. Das diskret futuristische Set wird dann schnell von allerlei schrillbuntem Personal mit putzigen Kostümen und schrägen Frisuren bevölkert, das eher nach Weihnachtsmärchen als nach Sciencefiction aussieht. Was nicht weiter schlimm ist, weil sie sehr passend dazu singen und spielen.

Zwar dauert es eine Weile, bis sich vor lauter szenischem und musikalischem Hyperaktivismus ein roter Faden findet. Deshalb steht zu befürchten, dass Huxley-Unkundige erst spät den Sinn des bunten Treibens erfassen werden. Im Hintergrund spürt man anfangs leicht verhalten Volker Ludwigs Zeigefinger, der vor den Verwerfungen der Gegenwart warnt. Doch Achim Gieselers Musik knallt so strahlend unbeschwert, so romantisch und schmissig über alles Sauertöpfische hinweg, alle Spieler sind so inbrünstig bei der Sache, dass man als Kritiker kein Spielverderber sein will.

Mit dem Ensemble ergeht es einem ähnlich. Kathrin Osterodes sexy-verträumte Betafrau Lenina, die plötzlich so etwas Überkommenes wie Liebe in ihrer ans pinkfarbene Korsettkleidchen drapierten Brust zu fühlen beginnt; Christoph Letkowski, der als Wilder John – Überbleibsel einer vergangenen Zivilisation – so inbrünstig Goethe oder Hesse zitiert, dass jeder Deutschlehrer im Publikum wahrscheinlich Herzklopfen bekommen wird; Michaela Hansen als somnambule Hippiemutter, Ester Daniel als augenzwinkernd-gestrenge Aufseherin der Brutfabrik mit menschelnden Allüren, Daniel Jeroma, der zackig-neurotische Oberaufseher Marx oder Laura Leyh als ewig unverbindlich strahlende Universalservicekraft: sie alle machen, trotz Neva Howards gelegentlich etwas überchoreografierten Arrangements, eine gute Figur.

Doch die Inszenierung lässt ihnen kaum Platz, so etwas wie Tiefe zu entwickeln. Die kommt nur auf, wenn Musik, Regie, Choreografie und Didaktik mal kurzerhand ausgefallen sind und die Schauspieler auch mal spielen und nicht bloß wie dressiert über die Bühne hüpfen dürfen. Zum Beispiel eine kleine Liebesszene, wo den beiden Akteuren, dem Kaspar-Hauser-ähnlichen John und der Cyber-Barbie Lenina, nur angelernte und vollkommen inkompatible Verhaltensmuster zur Verfügung stehen, weshalb die Begegnung natürlich scheitern muss. Aber dann lärmt sofort die Inszenierung wieder los und erschlägt auch dieses kleine Zuschauerglück.

Nächste Vorstellungen: 4. und 23.–26. November, Grips Theater