: Lob des Zweifels als Motor
THEATER Mit Komödien denkt es sich besser als mit hohem Ernst. Start des Theatertreffens in Berlin mit Heiner Müller und Kleist
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Von dem Dramatiker Heiner Müller, der aus der Kulturlandschaft der DDR wie ein viele Grenzen sprengender Monolith herausgeragt hatte, war lange nichts mehr auf dem Theatertreffen in Berlin zu sehen. Deshalb schien es eine schöne Überraschung, dass zur 51. Ausgabe des Festivals ein selten gespieltes Müller-Stück eingeladen war: „Zement“, ein Text über die russische Revolution, von Dimiter Gotscheff am Münchner Residenztheater inszeniert. Aber dass diese 1974 geschriebene Erzählung über Hunger, Armut, Parteiarbeit, Idealismus und Fanatismus, die die letzte Regiearbeit des letzten Jahres verstorbenen Regisseurs war, so schnell nach altem Osttheater riechen würde, kam dann doch anders überraschend als erwartet.
Schwer schleppten die Schauspieler an Steinen, die alles Belastende symbolisieren konnten zwischen Sisyphos-Mythos, Steinbruch der Geschichte und dem schwer zu beschaffenden Rohstoff für die wieder anzukurbelnde Zementproduktion; und schwer schleppten sie an einer Suche nach Wahrhaftigkeit und Wahrheit, die wie ein Erbstück aus dem Theater der Vergangenheit wirkte.
Gut, dass dieser Kunstanstrengung am zweiten Abend des Theatertreffens ein verführerisch leichtes und doch sehr kluges Spiel folgte, das seine Weichen von Anfang an anders stellte. Am Schauspielhaus Zürich hat Karin Henkel „Amphitryon und sein Doppelgänger“ nach Heinrich von Kleist inszeniert. Darin kommt ein Gott auf die Bühne, Jupiter, der in Gestalt des Feldherrn Amphitryon dessen Frau Alkemene eine Liebesnacht abluchst, während Merkur so lange die Aufgabe hat, den Diener Sosias davon abzuhalten, Sosias zu sein, damit er den Betrug nicht auffliegen lässt.
Natürlich wird dieses Spiel im Spiel oft genutzt, die Frage nach der Konstruktion von Identität zu stellen, zumal Kleist für solche postmoderne Subjektdekonstruktion avant la lettre ganz wunderbare Sätze zur Verfügung stellt. Doch wie sich die Schauspieler hier beim Verfertigen von Rollen zusehen, Szenen sich spiegeln und überholen, ist von besonderer Qualität. So, als hätte Heinrich von Kleist sich jahrelang René Pollesch einverleibt, bevor er sich hinsetzte und seine Komödie der narzisstischen Kränkungen über die Austauschbarkeit des „Ich“ niederschrieb.
Wie kommt es, dass die eine Inszenierung, „Zement“, alles in so weiter Ferne erscheinen lässt, dass die Anteilnahme schwer wird, während in der anderen, „Amphitryon“, trotz aller Verwechslungen das Mitdenken der Sätze fast immer mühelos geht? Wieso fällt das Einfädeln in die Konflikte der Figuren dort leichter, wo sie doch selbst ständig zweifeln, wer sie sind, als dort, wo alles eindeutig ist?
So viel gelitten, so viel geopfert
In „Zement“ empfindet man grade das hochemotionale Spiel als peinliche Zurschaustellung der ach so tollen Schauspielkunst. Mit wie viel Spannung in jeder Sehne, in jeder Faser dort Bibiana Beglau in die Leiden ihrer Figur Dascha Tschumalowa eintaucht! Sie spielt die Revolutionärin und große Verzichtsüberin, die der notwendigen Arbeit der Organisation der Frauen ihr Heim, ihr Kind, ihre Liebe freiwillig geopfert hat und jetzt erschreckt feststellt, dass sich darüber auch ihr Empfinden, ihr Wahrnehmen, ihre Ausdrucksfähigkeit verwandelt hat. Sie ist nicht mehr, wer sie war, und der Schmerz über den Verlust macht sie ganz krumm.
Beide Stücktexte rekurieren auf alte Mythen: Tatsächlich gehören die Erzählungen über Prometheus zu den besten Momenten des Gotscheffs-Abends, wenn Valery Tscheplanowa grade die großen Worte mit ganz kleinen Gesten unterstreicht. So klar sieht man das, was die Helden der Revolution wollen, ihre Utopie, das, wofür sie das Leiden und schließlich den Terror in Kauf nehmen, nie. Der große geschichtsphilosophische Horizont ist in Müllers Stück deutlich aufgespannt – aber das konkrete Einzelne, das davor Kontur gewinnen und darin aufgehoben sein soll, versuppt in seinen theatralischen Gesten.
Die Inszenierung von Karin Henkel dagegen scheint weniger zu wollen und mehr zu erreichen. Es geht nicht gleich um einen Geschichtsentwurf; ja nicht einmal so sehr um eine Kritik am Identitätsmodell, wie sich leicht suggerieren ließe. Sie entsteht viel handfester aus der handwerklichen Fähigkeit, das Aufnehmen und Ablegen von Rollen von außen und von innen zu betrachten und wie einen Mantel hin und her zu wenden. Da kann als schöne Überraschung sogar Wolfram Koch, ein Schauspieler des Deutschen Theaters in Berlin, auf dessen Bühne die Züricher Schauspieler Carolin Conrad, Fritz Fenne, Michael Neuenschwander, Lena Schwarz und Marie Rosa Tietjen so unbeschwert agieren, mit auf die Bühne kommen und mal eben einen Part übernehmen. Als ob das endlos so weitergehen könnte.