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Archiv-Artikel

Das Schweigen ist zu Ende

SEXUALISIERTE GEWALT Seit die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung eine Kampagne gestartet hat, explodiert die Zahl der Anrufer. Es gibt zunehmend Hinweise auf akute Fälle

„Die Gesellschaft versagt im Umgang mit den Betroffenen“

GABRIELE GAWLICH

VON CHRISTIAN FÜLLER

Es mutet an wie ein Dammbruch. Seit die Beauftragte für die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs, Christine Bergmann, ihre „Sprechen hilft!“-Kampagne startete, stehen die Telefone nicht mehr still. Seit September meldeten sich 5.000 Menschen, um über erlittene sexuelle Gewalt zu sprechen. Damit hat sich die Anzahl der Anrufer pro Monat verneunfacht. Es gibt immer öfter Hinweise auf akute Fälle. „Die Gesellschaft muss viel über Missbrauch lernen“, sagte Bergmann, „aber sie tut es auch.“

Die Fälle liegen manchmal Jahrzehnte zurück, weil die Betroffenen große Scham empfinden. Sie haben auch Angst davor, als Mitschuldige denunziert zu werden. Der Vater eines Missbrauchsopfers sagte, ein Trauma-Therapeut haben seinem Sohn augenzwinkernd mitgeteilt, man könne dabei auch Lust empfinden. Der Junge war in einer Behinderteneinrichtung von einem Mitschüler 60 Mal vergewaltigt worden.

Die Beauftragte war im März von der Bundesregierung berufen worden, nachdem zunächst in vermeintlich erstklassigen katholischen Einrichtungen wie dem Berliner Canisius-Kolleg oder dem Kloster Ettal eine Vielzahl von Missbrauchsfällen bekannt geworden war, später die reformpädagogisch orientierte Odenwaldschule mit einem regelrechten Missbrauchssystem Schlagzeilen machte. Die Fälle lagen jeweils Jahrzehnte zurück. Inzwischen richtet sich der Fokus Hilfesuchender mehr auf die Familie. Der Missbrauch in Institutionen ist ein Phänomen, das die Gesellschaft erst jetzt zu erkennen beginnt.

Die wissenschaftliche Begleitung der Kampagne hat herausgefunden, dass 34 Prozent der gemeldeten Fälle in Institutionen stattfinden, fast die Hälfte davon in katholischen Einrichtungen. In Kirchen, Heimen, Internaten oder Schulen werden sehr häufig Jungen missbraucht. Der Vertreter eines Missbrauchten, Henning Stein, mahnte die Institutionen, den Satz „Bei uns gibt es so etwas nicht“ nicht mehr zu verwenden. „Missbrauch ist ein allgegenwärtiges soziales Phänomen, eine Epidemie.“ Laut einer englischen Studie erleiden bis zu 10 Prozent der Mädchen und 5 Prozent der Jungen schwerwiegende sexuelle Gewalt durch Penetration.

Gabriele Gawlich von „Mogis – Eine Stimme für Betroffene“ forderte, die Täterstrategien in den Mittelpunkt der Aufklärung zu rücken: „Manipulieren, Separieren und Entmenschlichen“. Sie will, dass die Betroffenen einen festen Platz am runden Tisch bekommen.

Gawlich und Stein hatten zusammen mit sechs weiteren kürzlich an einer Betroffenenanhörung des Runden Tischs für Missbrauch teilgenommen. Das sei ein Befreiungsschlag gewesen, sagte Stein, „weil ich nie erwartet hätte, das Thema auf Augenhöhe mit Ministern besprechen zu können.“ Dennoch sei dies nur der erste Schritt, ergänzte Gawlich: „Die Gesellschaft versagt im Umgang mit den Betroffenen – auch wenn ihr das nicht bewusst ist.“

Dennoch gab es auch scharfe Kritik der Betroffenen. Ausgerechnet bei der Betroffenenanhörung waren 30 der 60 Mitglieder des runden Tisches nicht erschienen. „Es hat alle der Betroffenen erschrocken, ja böse gemacht, dass es wichtigere Termine gibt“, teilte ein anonymer Betroffener aus der Odenwaldschule in einer verteilten Erklärung mit. Diese Leute seien „für die weitere Teilnahme überflüssig“. Der runde Tisch wird von den Bundesministerinnen für Justiz, Bildung und Familie geleitet.