: „Ja, das bin ich“
SCHULD Nadja Benaissa war Sängerin der No Angels. Dann wurde sie als HIV-positiv zwangsgeoutet und verurteilt. Nun erfindet sie sich neu
■ Sein: Geboren wurde Nadja Benaissa 1982 in Frankfurt am Main in eine trikulturelle Familie mit deutschen, marokkanischen und jugoslawischen Einflüssen. In der Pubertät wird sie cracksüchtig, schwanger und infiziert sich mit HIV. Mit 19 wird sie Mitglied der Musikgruppe No Angels. Im Sommer 2010 wird sie wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, weil sie mit einem Mann ungeschützten Sex hatte, ohne ihn über ihre HIV-Infektion zu informieren, und dieser sich angesteckt hat.
■ Singen: Bevor Benaissa für die No Angels gecastet wurde, sang sie als Teenager in Langen bei Frankfurt in einer Rockband. Jetzt will sie sich als Solosängerin ein Standing erarbeiten. Als Erstes möchte sie Lieder von Rio Reiser singen.
■ Schreiben: Obwohl Nadja Benaissa erst 28 Jahre alt ist, hat sie bereits ein so ereignisreiches Leben, dass es eine 207-seitige Biografie füllt, die kürzlich im Edel Verlag erschien. Der Titel: „Alles wird gut“, die Autorin: Tinka Dippel.
INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB FOTOS JULIA BAIER
taz: Frau Benaissa, im Sommer wurden Sie, Exsängerin der No Angels, öffentlich vor Gericht zerrupft und als HIV-positiv geoutet? Wie geht es Ihnen heute?
Nadja Benaissa: Ganz gut, ich bin nach Berlin gezogen. Als Teenager habe ich einmal ein halbes Jahr hier gelebt. Das war unschlagbar. Seitdem ist Berlin meine Lieblingsstadt.
Hat der Umzug etwas damit zu tun, dass nach dem Prozess nichts mehr war wie vorher?
Der Prozess war eine meiner härtesten Erfahrungen. Ich habe mich bloßgestellt gefühlt. Der Gerichtssaal war ein gläserner Käfig. Ich sitze da drin, und alle gucken zu. Ich habe versucht, ruhig zu bleiben, aber das ist einfach so entwürdigend, wenn das ganze Sexualleben vorgeführt wird und die Leute Sachen über einen sagen, ob die stimmen oder nicht. Der Prozess war ja erst vor ein paar Wochen, aber in mir fühlt er sich an wie gelöscht. Ich schau halt jetzt nach vorne.
Und löschen geht so einfach?
Ich werde das schon aufarbeiten müssen, was in den letzten Jahren passiert ist. Ich wurde ja auch zur Aufarbeitung verurteilt.
Sie lachen.
Weil es komisch ist, zu einer Therapie verurteilt zu werden. Jetzt setz dich mit dir auseinander und erzähle: Und dann ist das passiert und dann das, und als ich sieben war, war dies, und als ich fünfzehn war, war das, aber vielleicht ist es doch auch ganz anders gewesen. Meine Biografie ist gerade erschienen, wo ich alles aus meinem Leben für die Autorin noch mal erinnern musste und wollte. Im Moment bin ich diese Aufarbeitung schon leid.
Sie wurden verurteilt, einen Mann mit HIV angesteckt zu haben? Man sagt, Sie haben Schuld.
Ja, ich bin verurteilt, eine vorsätzliche schwere Körperverletzung begangen zu haben.
Ist es schwer, damit umzugehen?
Ganz unabhängig vom Urteil ist es schwer, damit zu leben. Vor allem, wenn man merkt, dass dieser Mensch damit nicht zurechtkommt. Man geht ja meist von sich aus. Ich konnte mich halt recht gut damit arrangieren, dass ich HIV-positiv bin. Es war nie meine Absicht gewesen, jemanden vorsätzlich mit einer Krankheit anzustecken. Aber bei schwerer Körperverletzung ist es grundsätzlich so, dass der Vorsatz impliziert ist – und, ja, es ist schwer, das hinzunehmen.
Welche Reaktionen auf das Urteil gab es?
Die meisten Leute verurteilen mich. Dann gibt es welche, die sagen: Da gehören doch zwei dazu. Und es gibt Leute, die nachsichtiger sind. Sie hat einen Fehler gemacht, trotzdem sollte sie jetzt ihr Leben leben dürfen, sagen sie. Ich versuche mich freizumachen von dem, was die Leute denken, weil sich die wenigsten in die Situation von HIV-Positiven reinversetzen können oder wissen, was HIV bedeutet. Die meisten holen sich die Informationen aus der Bild-Zeitung.
Da waren Sie der „Todesengel“.
Nachdem ich aus der Untersuchungshaft entlassen wurde und gemerkt habe, dass das der Tenor war, war ich erst sehr wütend. Dann kam so eine Zeit, wo ich mich selbst für das, was passiert ist, total gehasst habe. Ich – ein Monster. Ich habe mir jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen. Aber irgendwann dachte ich: Ich muss lernen, mich mit meinen Fehlern zu akzeptieren. Die Scham wird zwar immer da sein, aber ich kann mich trotzdem lieben.
Ist Ihnen das gelungen?
Es kommt langsam. Das ganze Thema „HIV und Schuld“ und die Frage, „hab ich jemanden angesteckt oder nicht?“, das hat vergraben in mir schon lange gebrodelt. Dann kam der Knall, und alles, was ich versucht habe zu verdrängen, war am Licht. Ich kam an meine Grenzen. Ich wusste nicht mehr: Was ist richtig und was falsch, und wo soll ich hin, und was soll ich glauben, und gibt es überhaupt noch eine Perspektive für mich, und wie soll ich jetzt weiterleben? Dann konnte ich nicht mehr und bin zusammengebrochen. Da habe ich mir Hilfe geholt.
Welche Hilfe?
Eine Frau, die Coaching macht. Mit der habe ich die schwersten Themen angesprochen, und da haben wir es mit vielen Ritualen geschafft, dass ich mich selbst besser annehmen konnte.
Konnten Sie auch eine Zukunftsperspektive entwickeln?
Nach der Urteilsverkündung hatte ich noch einmal so ein Down. Ich dachte: Alles ist kaputt in meinem Leben, nichts geht mehr, und was soll ich hier, am liebsten würde ich auswandern. Das war die Erschöpfung, nehme ich an. Dann habe ich mich auf neue Ziele konzentriert. Zuerst Berlin. Und ich will wieder Musik machen. Nicht weil ich einen Hit möchte, sondern weil ich gern singe. Das gibt mir Kraft. Aber dass ich eigenständig lebe, dass ich selbst bestimme, wo ich wohne, was ich mache, wohin ich gehen möchte mit meiner Tochter, das ist gerade das Schönste.
Glauben Sie, dass Sie als Sängerin überleben können?
Kommt immer darauf an, was man für einen Anspruch hat. Aber solange ich die Möglichkeit habe, mich mit meiner größten Leidenschaft, der Musik, zu versorgen, werde ich das versuchen.
Sie wollen Rio Reiser singen?
Er spricht mir aus der Seele: „Wenn niemand bei dir ist und du denkst, dass keiner dich sucht, und du hast die Reise ins Jenseits vielleicht schon gebucht, und all die Lügen geben dir den Rest: Halt dich an deiner Liebe fest.“ – Reisers Texte, Melodien und seine Stimme bewegen mich sehr. Ich denke, uns verbinden dunkle Geheimnisse und Erfahrungen, ob nun finanziell, ob mit Managern oder der Liebe.
Was sind die Stärken der neuen Nadja Benaissa?
Die größte Stärke ist, dass ich jetzt Verantwortung übernehme für mein Leben.
Haben Sie das vorher nicht gemacht?
Ich war überfordert, ich konnte das nicht mehr. Ich habe viel geleistet und geschafft. Ich habe meinen Job professionell gemacht, mich um mein Kind gekümmert. Aber mit einigem war ich komplett überfordert, ob das der Papierkram war oder die Einsicht in das, was mein Management tut.
Was möchten Sie auf gar keinen Fall mehr erleben?
Ich möchte nicht mehr in so eine extreme Maschinerie geraten, die so einen Riesenhype auslöst – super erfolgreich, super berühmt. Ich möchte eine Mitte finden.
Ist nicht genau die Mitte das Problem? Nach allem, was von Ihnen bekannt ist, wirkt es so, als suchten Sie die Extreme.
Es stimmt, ich habe mich bisher von einer Katastrophe in die nächste gelenkt. Trotzdem habe ich mich immer nach der Mitte gesehnt. Jetzt habe ich so viel aufgeräumt, dass ich erst die Voraussetzungen habe für ein normales Leben. Vielleicht ist das für andere immer noch extrem, aber mir kommt es im Moment vor, als wäre mein Leben fast spießig.
Im Prozess wurden Ihre intimsten Erfahrungen öffentlich gemacht. Mit wem Sie wie oft im Bett waren. Ihre Drogensucht, Ihre frühe Schwangerschaft, Ihre HIV-Infektion. Jetzt legen Sie mit einer Biografie nach. Warum so schnell dieses Buch?
Nach all den Spekulationen hat sich ein Bild von mir eingeprägt: HIV-Infizierte, Straftäterin, jugendliche Drogenabhängige. Zuletzt wurde lanciert, dass ich auf dem Strich war. Da war es mir wichtig, selbst mal meine Geschichte zu erzählen.
Hat Ihre Perspektive auf Ihr Leben bisher denn gefehlt?
Ja.
Verstehen Sie selbst, warum Sie als Teenager außer Rand und Band gerieten?
Der Bruch kam, als ich vom Mädchen zur Frau wurde. Mit elf, zwölf fing das an. Ich war als Kind total auf meinen Papa fixiert. Und er auf mich. Aber meine körperliche Entwicklung in der Pubertät hat ihn überfordert. Er konnte mich nicht mehr in den Arm nehmen, mich nicht mehr richtig angucken, und ich habe mich abgelehnt gefühlt. Ich war kein typisches Mädchen, ich habe Basketball gespielt, in einer Rockband gesungen, mir meine Hosen zerrissen – für ihn war das alles schlimm. Alles, was ich machte, hat bei ihm eine negative Reaktion ausgelöst. Alles, was er gesagt hat, hat bei mir eine negative Reaktion ausgelöst – bis zu Hause nur noch Stress und Drama war.
Ihre Mutter konnte nichts entgegensetzen?
Nein. Meine Eltern waren immer eher eine Einheit. Mein Bruder gehörte auch dazu. Ich habe mich gefühlt wie das schwarze Schaf.
Was Sie aber nicht waren.
Es hat sich so angefühlt. Andere Kinder hätten vielleicht geschmollt, ich habe rebelliert. Ich habe früh angefangen zu rauchen. Wenn meine Eltern das gemerkt haben, gab es wieder Stress. Dann kam Alkohol dazu, dann das Kiffen. Alles in kurzer Zeit, ohne dass meine Eltern das richtig mitbekamen. Sie haben viel gearbeitet, damit es uns gut geht. Irgendwann geriet ich an die ganz falschen Leute, wo Kokain dazukam und Crack. Durch die Drogen war ich nicht mehr in der Lage, mich an Absprachen zu halten. Das haben meine Eltern wieder nicht verstanden, dann gab es noch mehr Stress, bis ich gar nicht mehr nach Hause bin. Dann habe ich immer mehr Drogen konsumiert, um die Gewissensbisse zu vergessen.
Ihr Vater ist gebürtiger Marokkaner. Ihre Mutter serbisch-jugoslawisch-deutsch. Sie sind von mindestens drei Kulturen beeinflusst. Woran haben Sie sich orientiert?
Orientieren konnte ich mich an nichts. Ich bin keine Marokkanerin, ich habe zwar viel mitbekommen von diesem Temperament, aber ich werde in Marokko niemals als Marokkanerin akzeptiert. Ich spreche auch kein Arabisch. Die serbische Familie wiederum lebt schon lange in Deutschland, da fühle ich mich zwar zugehörig, aber es ist auch nicht mein Weg. Und der deutsche Weg funktioniert auch nicht wirklich. Ich habe versucht, ein eigenes Bild zu entwickeln, ein Mischmasch. Ich habe die Vielfalt ja immer als Bereicherung verstanden: ein Wochenende bei der Kopftuchoma, am anderen kommt die serbische Großmutter und macht Käsestrudel – so was ist schön. All diese Einflüsse haben mich zu einem toleranten Menschen gemacht.
Sie sind in Langen bei Frankfurt aufgewachsen. Wie wurden Sie von Ihrer Umgebung gesehen?
Ich war Ausländerin. Aber ich war in Ordnung, wie gern gesagt wird.
War das eine Kränkung?
Sicher, ich habe mich ja immer als Deutsche gefühlt. Aber das ist eine so leidige und schreckliche Diskussion. Heute ist man nicht Ausländerin, dafür hat man einen Migrationshintergrund. Genau damit ist man dann aber doch wieder als Ausländerin gebrandmarkt. Früher war das für mich echt komisch, weil ich mich als Deutsche gesehen habe und dann diese Ausgrenzungen erlebte. Sei es auf dem Spielplatz, du rennst dem Ball hinterher und jemand schreit, geh dahin, wo du herkommst. Ich war ein wehrhaftes Kind. Ich habe mich hingestellt, Hände in die Hüften, und geschrien: Ich komme genauso aus Deutschland wie Sie.
Wurde es mit Ihrem Vater auch deshalb schwierig, weil er ein traditionell orientalisches Frauenbild mitbrachte?
Absolut. Meine Mutter ist eine moderne Frau, selbstständig, selbstbestimmt – und so wurde ich auch erzogen. Und dann kam dieser Bruch mit elf, zwölf Jahren, als mein Vater, wie mir schien, so ein Urmensch wurde. Was machst du? Wohin gehst du? Du willst dich mit Jungs treffen? Er unterstellte mir Sachen, die ich gar nicht im Kopf hatte. Er war total eifersüchtig und hat mir harte Regeln gesetzt, aber meinem Bruder überhaupt nicht. Ich war immer ein wildes Kind, das auf Bäume kletterte, und auf einmal schiebt mein Vater mir einen Riegel vor. Er war überfordert. Er hatte einfach Angst um mich. Heute verstehe ich es, weil ich weiß, wie er aufgewachsen ist als Ältester von zwölf Geschwistern. Auf ihm lag die Verantwortung für die Familie in Marokko, weil sein Vater als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen war.
Ihr Vater ist nicht in Deutschland aufgewachsen?
Er kam erst mit siebzehn nach Deutschland.
Für Eltern ist ja auch wichtig, wie man von außen gesehen wird.
Oh, das war ein zentraler Punkt; Was denken die anderen? Das ist mir zu den Ohren rausgekommen. Mein Vater war ja wirklich Tellerwäscher, der sich hochgearbeitet hat zum Restaurantbesitzer mit Kontakt zu den einflussreichen Leuten der Stadt. Es war ihm ganz wichtig, was andere Leute denken. Sie sind ihm wichtiger als ich, dachte ich. Das hat so viel Trotz in mir geweckt.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie ihm am wichtigsten sind?
In der Zeit meiner Drogensucht hat er sich total verändert. Er hat gesehen, dass er mich verliert, dass ich körperlich zugrunde gehe. Da war ihm plötzlich egal, was andere sagen. Das konnte ich damals natürlich nicht wahrnehmen. Meine Eltern haben alles versucht, dass es gut wird, aber gegen die Drogensucht waren sie machtlos. Mein Vater hat mich nie aufgegeben und steht immer zu mir. Das macht mich auch so stark.
Gab es in Langen keine Sozialarbeiter oder sonst wen, der Sie unterstützt hat oder der Sie noch hätte erreichen können?
Nein, aber ich habe mich auch isoliert.
Sie haben alles verneint.
Ja, alles. Das fing früh an, dass ich über Sachen nachgedacht habe, die mich belasteten: arm und reich, schwarz und weiß, was passiert in Afrika, was passiert mit den Tieren, mit der Welt? Ich habe nicht darüber geredet, was mich bedrückt. Meine Eltern haben das als Ablehnung empfunden. Es gab so viel, was gleichzeitig passierte und worüber ich nicht reden konnte. Wir waren ja nach außen eine Musterfamilie. Die Rüschenbluse gebügelt, die Lackschuhe poliert – das war immer ganz wichtig. Meine Eltern wollten zeigen: Wir sind nicht irgendwelche Kanaken – niemand soll das denken. Deshalb sind wir alle sehr starr, wie wir unseren Weg nach oben gehen.
Und warum, glauben Sie, haben Sie auch den Bezug zu Ihrem Körper verloren?
Ich kann nicht erklären, wie so was kommt. Vielleicht ist es einfach so: Ich bin da zwar rein-, aber nicht mehr rausgekommen. Ich war immer in so einer grundmelancholischen Stimmung, und Drogen haben das noch verstärkt. Dann habe ich Tracy Chapman gehört und vielleicht noch Rotwein getrunken – ich war für mich allein in meiner Welt.
Glauben Sie, wenn man verstehen würde, was ein Teenager wie Sie erlebt, kann man lernen, was an der Integrationsdebatte falsch ist?
Drogenprobleme gibt es in vielen Familien, egal aus welcher Kultur. Meine Konflikte haben begonnen, als ich in die Pubertät kam. Ich glaube, dass ich gut integriert war, allein schon weil Deutsch meine Muttersprache ist. Wenn ich meine Kindheit und Jugend mit dem Leben meiner marokkanischen Cousinen vergleiche, dann war ich ein total freier Mensch. Ich musste nie diese absolute Kontrolle der Familie erleben. Trotzdem musste ich kämpfen, um mich emanzipieren zu dürfen als junges Mädchen, junge Frau. Es ist für mich der absolute Horror, mir vorzustellen, dass mein Leben von anderen bestimmt wird und ich keine Rechte habe.
Gleichzeitig haben Sie sich bestimmen lassen von Drogen, von Drogendealern.
Ja, das ist ein Widerspruch. Aber das war die Sucht. Da war ich auch nicht mehr ich. Und danach kamen die No Angels, und auch das war wieder fremdbestimmt. Ich habe meine Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass ich so nicht glücklich bin.
War No Angels auch Droge?
Nein, eher ein Pflichtgefühl. Man hatte keine große Wahl. Entweder man macht mit oder nicht. Vorher war ich Sozialhilfeempfängerin, Schülerin, HIV-positiv. Die Leute haben schlecht über mich geredet. Und dann war ich No Angels. Plötzlich hatte ich Erfolg, verdiente viel Geld. Ich hatte das Gefühl, ich kann etwas erreichen, ich kann meiner Familie etwas zurückgeben und den Grundstein für meine Tochter legen. Das ist aber nach hinten losgegangen. Das Geld war irgendwann komplett weg. Das Pflichtgefühl den anderen gegenüber war aber noch da. Jedes Jahr haben wir uns gefragt: Machen wir weiter? Ja? Nein? Einmal habe ich nein gesagt und wurde gelockt: Wir gehen nach Miami, du kannst deine Familie mitnehmen, wir machen ein Album. Sodass man nicht nein sagen kann als Neunzehn-, Zwanzigjährige.
Wie haben Sie das alles weggesteckt, was noch dranhing, die Erpressung durch die Medien, die Sie als HIV-positiv outen wollten, die falschen Manager?
Ich will eigentlich rausschreien, wie beschissen das alles war, aber es ist auch so, dass ich mich jetzt befreiter fühle. Die Angst ist weg: Was passiert? Komme ich ins Gefängnis? Was wird sein? – Ich war doch gar nicht mehr anwesend. Über meine HIV-Infektion zu schweigen ist mein gutes Recht. Ich hätte noch weiter geschwiegen, wenn ich nicht geoutet worden wäre. Aber jetzt habe ich viel mehr das Gefühl: Ja, das bin ich. Akzeptiert mich oder nicht! Ich kann viel selbstbewusster sagen, was ich denke. Das war vorher nicht möglich. Vorher musste ich immer darauf achten, so beliebt wie möglich zu sein.
Sie wurden zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt, und Sie müssen 300 Stunden in einem Aids-Hospiz ableisten.
Ja, das ist schwer, dass man mich verurteilt hat, im Hospiz zu arbeiten. Ich soll lernen, was ich den anderen angetan habe, was es bedeutet, krank zu sein, wie man an Aids stirbt. Ich bin HIV-positiv, ich weiß, was das ist. Um gegen eine Krankheit zu kämpfen, muss man sich stark fühlen. Ich gehe aber trotzdem gern ins Hospiz. Ich bin ein Mensch, der das kann. Dieser ganze Prozess hat mich verändert. Vorher habe ich immer geglaubt, dass ich nicht krank werde. Ich nehme meine Medikamente, und ich werde Oma, und alles wird gut. Wenn aber immer gesagt wird, dass man krank sei, und – wie im Prozess immer wieder gesagt wurde – dass Aids nach zwanzig Jahren auf jeden Fall ausbricht, dann werde ich krank, dann bekomme ich Angst. Trotzdem hab ich mich fürs Hospiz entschieden. Die Alternative wäre Aufklärung in Schulen gewesen. Aber im Moment ist mir das über: „Ah, No Angels, ah daylight.“ Ich kann das grad nicht.
■ Waltraud Schwab ist sonntaz-Reporterin und verfolgte im Sommer 2010 den Prozess gegen Nadja Benaissa vor Ort in Darmstadt