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Archiv-Artikel

Kleine Notfälle auf der Warteliste

In der Bedarfsplanung werden Erwachsenen- und Kinderthera-peuten nicht getrennt von einander erfasst

VON ANNE HERRBERG

Mozart leiert. Die Batterien in Sarahs* gelbem Kassettenrekorder sind schon wieder leer. Dabei hat ihre Großmutter Christine Günzel* sie erst vor zwei Tagen ausgetauscht. Sarah hört eben sehr viel Musik. Nicht Tokio Hotel, wie andere Mädchen ihres Alters, sondern Mozart, Violinkonzerte oder Kinderhörspiele wie Peterchens Mondfahrt. Dann wird sie ruhig, schließt die Augen, träumt und summt leise mit.

„Sie ist noch ein ganz kleines Kind“, sagt Christine Günzel zärtlich. Sarah ist neun Jahre alt, schlank, blond, hübsch und wohnt in Hamm. Doch meistens lebt sie in ihrer Märchenwelt. Sie zieht sich zurück, lässt kaum einen an sich heran, weint viel, aber spricht nur wenig. Christine Günzel versteht sie trotzdem. Sie weiß, Sarah ist nicht nur schüchtern, sondern krank. Krank an der Seele.

Knapp jedes fünfte Kind in Deutschland hat psychische Beschwerden. Jedes zwanzigste gilt als dringend behandlungsbedürftig. „Die Zahl ist fast so hoch wie die bei Erwachsenen“, sagt Günter Esser, Psychologieprofessor an der Uni Potsdam und Verfasser einer Studie zum Thema. Doch viele Eltern würden nicht erkennen, dass ihrem Kind etwas fehlt. Wer hält es schon für möglich, dass ein Kleinkind an Depressionen leidet?

„Es gibt natürlich auch Ängste, die gehören zur normalen Entwicklung im Kindesalter“, sagt Kindertherapeutin Bettina Kamphues aus Werne. „Aber wenn ein Kind sich zurückzieht oder selbst sagt, es geht mir schlecht, sollte man das sehr ernst nehmen.“ So genannte leise Störungen – Angst, Depression, Apathie – sind genauso häufig wie die auffälligen Krankheiten, darunter etwa Hyperaktivität oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS).

Oft kommen mehrere Symptome zusammen, wie bei Till*, Sarahs zwei Jahre jüngerem Bruder. Manchmal dreht er auf, nervt Lehrer und Nachbarn, schlägt um sich. Vor großen Stofftieren hingegen hat er Angst und wird ganz klein. Als Christine Günzel zu Ärzten ging und um Hilfe bat, wurde ihr gesagt: „Arbeiten Sie mal an ihrer Erziehung!“ Da zieht sie die Lippen spitz zusammen – das tat weh. „Es gibt Probleme, die kann auch keine Super Nanny lösen“, sagt sie.

Sarah und Till sind bei ihr in Pflege. Die Mutter der beiden, Christine Günzels Schwiegertochter, war schwer medikamentenabhängig. Als Sarah auf die Welt kam, war ihr kleiner Körper bis oben hin voll gepumpt mit Psychopharmaka. „Die ersten Jahre kotzte sie jedes Essen in hohem Bogen wieder aus, sie schrie nur, konnte es nicht aushalten, wenn man sie in den Arm nahm“, erinnert sich Christine Günzel. Till wog 6, 6 Kilo, als er nach 17 Monaten aus dem Krankenhaus zu ihr kam – zwölf Kilo sind in dem Alter normal. „Ich habe die beiden hoch gepäppelt. Oft dachte ich, sie schaffen es nicht.“

Auch wenn die Kinder heute körperlich einigermaßen fit sind, ihre Seelen sind es noch lange nicht. Christine Günzel suchte professionelle Hilfe. Doch so einfach war das nicht. Auf einen Therapieplatz für die damals zweijährige Sarah musste sie ein halbes Jahr warten. Und das obwohl sie ihre Enkeltochter bei einer privaten Therapeutin anmeldete, auch vor einer zweistündigen Hinfahrt und 60 Euro aus eigener Tasche nicht zurück schreckte. „Ich wollte, dass Sarah eine Tomatis-Therapie bekommt, die sehr stark mit Musik arbeitet“, so Günzel. „Das zahlt die Krankenkasse sowieso nicht.“

Für Till suchte sie dann einen ortsnahen Therapeuten, den auch die Krankenkasse zahlt, und wurde vom Jugendamt an Bettina Kamphues nach Werne verwiesen. Das war vor zwei Jahren. Wartezeit: knapp ein Jahr. „Wissen Sie, wie lange ein Jahr für ein knapp sechsjähriges Kind dauert? Das ist ein Sechstel seines Lebens.“ Energisch nimmt Günzel einen Schluck Kaffee. „Sie sitzen da und warten, aber es passiert nichts. Das Kind wird älter, und mit jedem Tag sinkt sein Selbstwertgefühl, weil es denkt, keiner will mich, keiner mag mich. Können Sie sich diese Verzweiflung vorstellen?“

Christine Günzel, Mitte fünfzig, hat zwei eigene und mittlerweile 14 Adoptiv- oder Pflegekinder aufgezogen. „Das hat sich so ergeben“, sagt sie. „Nach der ersten Adoption kam eine Anfrage, ob ich mich auch um Pflegekinder kümmern wolle. Ich habe das immer gerne getan.“ Die meisten Kinder brauchten irgendeine Art von Therapie. Durch persönliche Kontakte konnte sie schon manche Wartezeit verkürzen. Doch gegen strukturelle Probleme ist auch sie machtlos. „Die Versorgung mit Kindertherapeuten ist absolut defizitär“, sagt Bettina Kamphues. Die ausgebildete Kinder - und Jugendtherapeutin hat selbst nur eine befristete Zulassung für ihre Praxis bekommen. Mittlerweile stauen sich die Anfragen. Für einen Therapieplatz am Vormittag wartet man bei ihr bis zu eineinhalb Jahren, für einen am Nachmittag sogar zwei bis drei Jahre. Es macht traurig und wütend, hilflose Eltern wegschicken zu müssen, sagt sie. „Ich weiß ja nicht mal, wohin ich die schicken kann.“

Auch die psychiatrischen Notfallabteilungen der Kinderkliniken sind überlastet. An der Uniklinik Münster, die erst vor einem Monat ihre Bettenkapazität verdoppelt hat, stehen für einen Therapieplatz noch immer zwei Kinder auf der Warteliste. Ebenso viele müssen von vornherein abgewiesen werden. Und das obwohl die Region laut Kassenvereinigungen als „überversorgt“ gilt. Laut Gesetz müsste zumindest in akuten Krisensituationen eine unverzügliche Aufnahme gewährleistet sein. Klinikleiter Tilman Fürniss forderte das NRW-Gesundheitsministerium zu weiteren Aufstockungen im Landesbettenplan auf. „Die konkreten Bedarfszahlen und die Wartezeiten sprechen eine eindeutige Sprache“, sagt Fürniss.

Die Unterversorgung sei Fakt, sagt auch der Kinderpsychologe Esser. „Wer die anzweifelt, ignoriert die Realität.“ Peter Dittmann, Leiter der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, tut es. „Wir haben hier keine Unterversorgung“, sagt er. In den Händen der Kassenvereinigungen liegt es, wie viel ambulante Therapeuten in freier Praxis pro Einwohner zugelassen werden. Entscheidend ist dabei die bundesweite Bedarfsplanungsrichtlinie. Doch darin werden ärztliche Therapeuten, Erwachsenen- und Kindertherapeuten nicht getrennt erfasst. Ob ein oder kein Kindertherapeut vorhanden ist, steht nicht in der Statistik.

Schätzungsweise behandeln derzeit aber nur 13, 5 Prozent aller Psychotherapeuten Kinder. In NRW seien die Zahlen ähnlich, so Detlef Bunk von der Landespsychotherapeutenkammer, die derzeit eine Studie über die genaue Versorgungssituation in NRW plant. „Wir fordern eine getrennte Bedarfsplanung und dabei mindestens 20 Prozent Kindertherapeuten“, so Bunk. Im gesamten Bundesgebiet könnten sich dann rund 1.200 Kinder- und Jugendtherapeuten zusätzlich niederlassen. Kosten würde das aber rund 100 Millionen Euro. Elke Kappen vom Jugendamt Werne sieht da wenig Chancen auf Besserung: „Es wird doch immer nur geguckt, wo kann ich im Sozialbereich noch etwas einsparen.“ Und auch die Kommunen sind arm. „Weil nicht zugelassene Therapeuten oft mehr Kapazitäten haben, aber privat abrechnen, versuchen wir sozial schwache Familien in Notfällen finanzielle Unterstützung zu geben“, sagt Kappen. Doch auch dafür stünden immer weniger Mittel zur Verfügung.

„Wenn ein Kind sich zurückzieht oder selbst sagt, es geht mir schlecht, sollte man das sehr ernst nehmen“

Für psychische Erkrankungen auch im Kindesalter gilt: „Je früher sie behandelt werden, umso besser“, sagt Günter Esser. „Seelische Beschwerden wachsen sich nicht aus, sondern werden chronisch.“ Kranke Kinder werden noch kränkere Erwachsene – nicht selten manisch-depressiv, alkoholabhängig und arbeitsunfähig. Eine britische Studie rechnete aus, dass Kinder, die im Alter von zehn Jahren eine Störung im Sozialverhalten aufwiesen, die Steuerzahler in späteren Jahren durchschnittlich 120.000 Euro kosten. Diese Studie wird auch im EU-Grünbuch 2006 zur Verbesserung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung zitiert. Die NRW-Landesregierung führt an, für die Bedarfsplanung nicht zuständig zu sein. Und die Bundesregierung sieht derzeit „keinen Handlungsbedarf“. Eine entsprechende Anfrage der FDP-Fraktion im Frühjahr wies sie mit der Begründung zurück, es gäbe ja Sonderregelungen für den Notfall. Anwendung finden diese Sonderregelungen indes kaum, so Psychologieprofessor Esser.

Die derzeitige Situation sei eine Farce, sagt Bettina Kamphues. Denn Kinder müssten sofort und vor allem auch ganz anders behandelt werden als Erwachsene. Das erfordere eine entsprechende Ausbildung und Ausstattung. Zwar hat auch sie eine Couch im Zimmer. In der Therapie sind aber ganz andere Gegenstände im Einsatz.

Till ist nun seit knapp einem Jahr bei ihr in Therapie. Wenn er kommt, darf er sich erst mal im Sportraum austoben, ins Ballbecken springen, auf den Boxsack eindreschen. Danach spricht er mit der kleinen Handpuppe Tim Tiger, die ganz ähnliche Probleme hat wie er. In Absprache mit Tim hat der hyperaktive Till die Einschulung geschafft, ist ruhiger, auch mutiger geworden. Und seine Schwester Sarah, die bisher auf einer Behindertenschule war, wechselt bald an eine Waldorfschule. Sie freut sich, vor allem auf die vielen Musikstunden.

„Kinder muss man da abholen, wo sie sind“, sagt Bettina Kamphues. „Wenn ein Kind Angst vor Monstern hat, bringt es nichts, ihm zu sagen, es gebe keine Monster.“ Hilfreicher sei, zu überlegen, ob man das Monster mal zum Spielen einladen soll. Oder, wenn alles nichts hilft, wäre da noch eine Monsterlaserwaffe, zu der man jede Taschenlampe umfunktionieren kann.

*Namen von der Red. geändert