Die Welle macht’s

Kritik der Kritik (15): Was kommt nach „Satisfaction“? Ausgerechnet Pop hat sein Universal-Appeal eingebüßt. Denn vor lauter Marktförmigkeit fehlt es an klugen Kontextualisierungen durch Kritik – und an gutem Radio, das die Verhältnisse hörbar macht

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

von KLAUS WALTER

„Wir haben in unserer komplizierten und verworrenen Zeit Formen, die jeden unbedingt ebenso erfassen wie der Feuertanz den Neger oder das geheimnisvolle Trommeln der Fakire den Inder. Der Privatgelehrte steht als Soldat neben dem Bauernsohn. Beiden fährt der Parademarsch gleichmäßig durch die Glieder, ob sie wollen oder nicht. Im Kinematograf staunt der Professor neben dem Dienstmädchen. Im Varieté bezaubert die schmetterlingsfarbene Tänzerin die verliebtesten Paare ebenso stark, wie im gotischen Dom der Feierton der Orgel den Gläubigen und Ungläubigen ergreift“, schreibt der Künstler August Macke 1911 unter der Überschrift „Die Masken“ in dem Almanach „Der Blaue Reiter“. Und er fährt fort: „Die Freuden, die Leiden des Menschen, der Völker stehen hinter den Inschriften, den Bildern, den Tempeln, den Domen und Masken, hinter den musikalischen Werken, den Schaustücken und Tänzen. Wo sie nicht dahinterstehen, wo Formen leer, grundlos gemacht werden, da ist auch nicht Kunst.“

Wo ist es geblieben, das große, klassenübergreifend, grenzüberschreitend welterschütternde Kunstwerk? Wo ist sie geblieben, die große Erzählung? Fast hundert Jahre danach wirkt Mackes expressionistische Beschwörung des universalen Kunstwerks bestenfalls rührend.

Warum fährt der Parademarsch nicht mehr allen gleichmäßig durch die Glieder? Warum erfassen die Künste nicht mehr jeden unbedingt wie der Feuertanz den Neger? Solche Fragen hat man sich längst abgewöhnt, vor allem, wenn es um populäre Musik geht.

Pop mit Universal-Appeal, das ist vorbei. Die Zeit der großen Parademärsche, das waren die 60er, die Beatles, die Stones, Otis Redding und Aretha Franklin mit ihren Drei-Minuten-Imperativen, die allen durch die Glieder fuhren. Help! Satisfaction! Respect!

Und heute? Nicht mal Robbie Williams funktioniert universal, in Los Angeles kann er unerkannt in den Supermarkt gehen. In den deutschen Top Ten stehen mit Yvonne Catterfeld, Silbermond, Juli, Michael Mittermaier, Rosenstolz und den Ärzten sechs Acts, für die sich außerhalb des deutschen Sprachraums kein Mensch interessiert. Fratellis? Ordinary Boys? Razorlight? Groß in Großbritannien, aber nur dort. Aus der ökonomischen Globalisierung resultiert eine Rückbesinnung auf die eigene Scholle, eine kulturelle Provinzialisierung.

Aber was hat das mit der Kritik zu tun?

Es hat zu tun mit dem Verschwinden der Kritik in dem Medium, das über Jahrzehnte das ureigene des Pop gewesen ist: das Radio.

Zwei mediale Innovationen haben dazu geführt, dass das Radio seine Definitionsmacht über Pop eingebüßt hat. Die Erfindung des Musikfernsehens und die Zulassung des privaten Rundfunks. Vor MTV war das Radio in der Lage, Hits zu machen und Trends zu setzen, danach gab es keinen Hit mehr ohne Videoclip. Vor dem Siegeszug des Privatfunks konnte das Radio neue Musik vorstellen, analysieren, kritisieren. Das Radio war für die Musik da. Heute ist die Musik fürs Radio da. Mit immer kleinerem Repertoire versuchen die Radiomacher die Wiedererkennbarkeit zu steigern, Ausschaltimpulse zu minimieren. Als Ausschaltimpuls gelten unbekannte Musik und gesprochenes Wort.

Wenn Radio aus 400 Musiktiteln, Wetter, Verkehr und Gewinnspiel besteht, dann ist für Popkritik kein Platz mehr. Dieser Logik des Privatradios haben sich – Sachzwänge! Quotendruck! – die ehemaligen Popwellen der öffentlich-rechtlichen Anstalten unterworfen, die einen mehr, die andern weniger. Sendungen, die sich ausführlich mit Popmusik beschäftigen, sie in kulturelle oder gar politische Kontexte stellen, sind im Zuge dieser Anpassung weitgehend verschwunden.

Dass die Massenwellen einen kritischen Diskurs über Pop nicht gebrauchen können, ist logisch. Sie müssen Quote machen, um Werbekunden zu erreichen und mit relevanten Hörerzahlen die Gebühren zu legitimieren. Allerdings verfügen die öffentlich-rechtlichen Anstalten über fünf, sechs, sieben Programme, und alle haben ihre Kulturwelle. Dort herrscht jedoch meist ein Kulturbegriff vor, der Pop mit der Beißzange anfasst, wenn überhaupt. Sicher, es gibt Nischen, man gönnt sich eine CD der Woche, wenn Tom Waits sich räuspert gibt’s einen Dreiminüter, wenn Sting sich mit einem bosnischen Lautenisten einlässt ein Minifeature. Und Weltmusik wird immer gern genommen.

Dass aber angloamerikanische Popmusik seit über 50 Jahren unseren Alltag, unser Leben, unsere Kultur prägt und bestimmt, das hört man diesen Kulturprogrammen nicht an, und nicht wenige der Verantwortlichen werden sagen: Das ist auch gut so. Die einen pflegen ihren Klassen- und Klassikdünkel, die anderen ihren kulturellen Antiimperialismus, die Schlimmsten sind diejenigen, die beides verbinden. So kommt es zu einer grotesken Schieflage: Im Internet sieht man den Popwald vor lauter Bäumen nicht mehr. Der Erfolg von MySpace und YouTube setzt das Regelwerk von Produktion, Distribution, Konsum und Diskurs außer Kraft; was an seine Stelle tritt, ist derzeit noch nicht absehbar. In den großen Tages- und Wochenzeitungen wird Pop reflektiert, diskutiert, kritisiert, auf unterschiedlichem Niveau, aber immerhin. Und das Radio? Stellt sich taub und erfindet sich seine popfreie Parallelgesellschaft.

Aber wir spielen doch Scissor Sisters, Jan Delay und My Chemical Romance, werden die Popwellen sagen. Klar, die laufen schon mal, aber man erfährt nichts über die Queer-Verbindungen der Scissor Sisters, die RAF-Verbindungen des Jan Delay oder darüber, was My Chemical Romance mit dem merkwürdigen Phänomen Emo zu tun haben.

Wenn eine Realitätsverarbeitungsmaschine von der Größe und Macht eines öffentlich-rechtlichen Systems es sich leisten kann, eine Realität von der Größe und Wirkungsmacht wie Popkultur einfach aus dem Diskurs auszublenden, dann muss man fragen: Wem nützt das? Da könnte man fast wieder an die subversiven Potenziale von Pop glauben. Die Wahrheit ist eine andere. Diese Verantwortlichen – es sind Herren, auch wenn ihr biologisches Geschlecht weiblich ist – haben keine Angst vor Pop, sie haben Angst vor dem Popdiskurs. Vor ominösen Vokabeln wie Queer oder Emo, vor einem Singrapper, der mit Lindenberg im Duett singt, aber auch über die RAF rappt, sie haben Angst vor Zusammenhängen zwischen Dingen, Themen und Haltungen, die in ihrer warenförmig sortierten Abteilungsleiter-Welt nicht zusammengehören, vor Kontexten, die das Zwei-Minuten-Format sprengen, vor Fremdwörtern, Anglizismen und Name Dropping. Sie haben Angst vor allem, was sie nicht kennen. Alles Ausschaltimpulse und womöglich Denkanreger, über das Name Dropping von RAF und Queer könnte ja jemand auf verquere Gedanken kommen.

Musik denken diese Leute ausschließlich als Klebstoff, der die Hörer bei der Stange hält, über Musik reden sie nur in Kategorien wie Altersklasse, Zielgruppe, Demoskopie, Demografie. Das Radio macht sich ein warenförmiges Bild des Hörers, kennt ihn nicht anders denn als Konsumenten. In dieser Kaufhauslogik ist es unvorstellbar, dass sich jemand gleichermaßen für die neue Bob Dylan und Dubstep interessiert. Der Dylan-Konsument ist männlich, über 45 und liest Rolling Stone, der Dubstep-Konsument ist meist männlich, unter 25 und liest De-Bug. Der Dylan-Konsument hört Adult Contemporary oder Classic Rock, der Dubstep-Konsument hört Jugendradio. Wer so denkt, wird niemals auf die Idee kommen, Dylan und Dubstep miteinander oder gar beides miteinander seinen Hörern (Lesern) bekanntzumachen.

Dabei gibt es – nur mal so als Fingerübung – zwischen Dubstep und Dylan mehr Gemeinsames als die alphabetische Nähe. Das Wasser zum Beispiel. „The levee’s gonna break“ singt Dylan auf seinem neuen Album „Modern Times“. Der Deich wird brechen, ein Jahr nach Hurrikan „Katrina“ in New Orleans. Rockfans aus der Zielgruppe Classic Rock könnten sich an Led Zeppelin erinnern: „When the levee breaks“. Dass die weiße Rockband sich hier einen Song von 1929 aneignet, aufgenommen von dem schwarzen Blues-Ehepaar Kansas Joe McCoy und Memphis Minnie, für diese Information und den entsprechenden Song gibt es in der Logik der Radiotechnokraten keine Zielgruppe mehr. Schon gar nicht 17-jährige Dubstep-Irre, die das Album von Burial nicht nur für seine sonischen Erdbeben lieben, sondern auch für seinen Subtext: Das Cover zeigt ein Luftbild von London, ein London, das bald untergehen wird im Wasser, Burials Dubstep-Voodoo imaginiert eine aquatische Apokalypse. Der 17-jährige Dubstep-Irre wirft die Suchmaschine an, stößt auf Kodwo Eshuns „Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction“ und besorgt sich afrokaribische Aquadelica, von Undisputed Truth über Drexcyia zurück zu Kansas Joe und Memphis Minnie. Das wäre ein Popdiskurs, wie ihn auch Print hinbekommt, den aber nur Radio hörbar machen kann.

Aber es gibt ja solche Radioshows. Bob Dylan macht so eine und wird dafür weltweit gefeiert. Zum Thema Augen spielt er Songs von Sonny Boy Williamson, Al Martino und The Streets, zum Thema Mutter mischt er Memphis Slim mit Randy Newman und L. L.Cool J. Er tut also genau das, was im formatierten Radiodenken – und im formatierten Kästchenwesen der deutschen Musikpresse, die immer mehr Versandhauskatalogen gleicht – verboten ist: assoziieren, fantasieren, Kontexte stiften, Genres mischen, Altersklassen mischen, Soundfarben und Klangreize (wie die Psychoakustik sagt) mischen. Dylan darf das.

Die große Erzählung, von der Macke schwärmte, ist verschwunden, weil nicht mehr erzählt wird und nicht kritisiert. Im Radio scheint dieser Prozess irreversibel. Was bleibt, ist defensive Schadensbegrenzung: Redezeiten und Textlängen verteidigen, Formatbruch riskieren, Dubstep und Dylan zum Parademarsch mixen. Soll er ihnen in alle Glieder fahren.