: Dummer Süden, kluger Norden
BRAINDRAIN Aus Südeuropa strömen gut ausgebildete junge Menschen in den Norden. Die Finanzkrise hat eine Negativspirale in Gang gesetzt, an deren Ende Zukunftsreiche gegen Zukunftsarme stehen. Nötig ist eine Art Marshallplan für Forschung und Innovation
VON ERNST-DIETER ROSSMANN
Die Hoffnung und das Versprechen waren groß – damals in Lissabon, als die Regierungschefs der Europäischen Union auf dem vorläufigen Höhepunkt der linken Machtentfaltung in Europa im Jahr 2000 die sogenannte Lissabon-Strategie verabschiedeten. Bis zum Jahr 2010 sollten die Staaten der EU den größten wissenschaftsbasierten Wirtschaftsraum der Welt konstituieren. Dazu sollten die Staaten mindestens 3 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben.
Und wo stehen wir jetzt, bald 15 Jahre nach der Geburtsstunde der Lissabon-Strategie? Statt gemeinsamem Aufbau von Bildung und Wissenschaft verzeichnen wir dramatische Einbrüche, vor allem in den südeuropäischen Ländern breiten sich Investitionswüsten aus.
In Portugal hat die Regierung im vergangenen Jahr die Ausgaben für Bildung um 1,5 Milliarden gekürzt. Ein ähnliches Bild gibt es in Spanien, wo insbesondere die Bedingungen an den Hochschulen drastisch verschlechtert worden sind. Das EU-Gründerland Italien gibt von allen EU-Ländern den geringsten Anteil seiner staatlichen Gesamtausgaben für Bildung aus.
Schließlich Griechenland: Der Anteil von Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt beträgt gerade mal 0,6 und ist damit dramatisch unterentwickelt. Griechenland hat seine Ausgaben für das Hochschulsystem um 30 Prozent gekürzt und nimmt damit die Spitzenposition ein. Professoren haben bis zu 50 Prozent ihres Einkommens verloren, Postdoktoranden müssen von etwa 1.000 Euro im Monat leben. 100.000 Bewerberinnen um Studienplätze konkurrieren nach Kürzung des Studienangebots um 69.000 Plätze.
Da ist es kein Wunder, dass gerade die jungen, vielfach wissenschaftlich qualifizierten Menschen das Land verlassen. Vom Studium im Ausland kehrte von 2009 bis 2011 nur jeder Sechste nach Griechenland zurück. Nach ernst zu nehmenden Schätzungen aus der Universität Thessaloniki haben über 100.000 wissenschaftlich gebildete Griechen das Land bereits verlassen.
Verlust an Zukunftspotenzial
Wem diese Zahl in ihrer ganzen Brutalität nicht anschaulich genug sein sollte, mag diese auf die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland umrechnen. Unser Land hätte danach in kurzer Zeit einen Aderlass von 800.000 wissenschaftlich qualifizierten Menschen zu verarbeiten. Was dieses an innerer Depression auslösen würde, aber auch als Verlust an Zukunftspotenzial in Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft, kann sich jeder schnell ausmalen.
Zukunftsreiche drohen gegen Zukunftsarme in Europa zu stehen. Eine tiefreichende Negativspirale wird angelegt, die mit dem Lissabon-Prozess und der Verknüpfung von Bildungsressourcen und Forschungspotenzialen im Sinne nachhaltiger Wertschöpfung gerade durchbrochen werden sollte. Umso dringlicher ist es, die Auswirkungen dieses innereuropäischen Braindrain und Braingain endlich auf allen politischen Ebenen zu thematisieren. Wir brauchen die breite europäische Debatte über die drohende Spaltung Europas bei Bildung, Wissenschaft und Forschung.
Hier sind auch neue Proportionen zu setzen, wenn man die Aufwendungen für die Sanierung der Finanzhäuser in Relation setzt zu den Anstrengungen für die Sanierung der Institutionen von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Die Europäische Union und auch die Bundeskanzlerin Deutschlands waren schon einmal weiter, als die Diskussion um die sogenannten Projektbonds geführt wurde, also gemeinsame Anleihen für grenzüberschreitende Investitionen. Leider versandete die Debatte.
Dass die Mittel für die exzellente Forschung in Europa im neuen Programm Horizon 2020 gesteigert worden sind, soll hier genauso wenig kritisiert werden wie die Öffnung der Strukturfondsmittel für Wissenschaft und Forschung. Für Griechenland sind dabei zum Beispiel ein Fünftel der gesamten EU-Mittel in Höhe von 4 Milliarden Euro vorgesehen, die das Land bis 2020 im sogenannten Partnerschaftsvertrag für die „Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, des Unternehmertums und der Innovation“ erhält. Die Aufteilung der Projekte und Maßnahmen und damit auch die Relevanz für Forschung und Entwicklung stehen allerdings noch aus.
Eine solche programmatische Schärfung und Bündelung ist aber notwendig, um dann auch einen Beitrag zu Aufbruchstimmung und neuer Hoffnung in den südeuropäischen Ländern zu leisten. Was der Marshallplan für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands nach dem Krieg ideell und materiell war, muss ein Jacques-Delors-Plan für Forschung und Innovation in der europäischen Gegenwart werden, benannt nach einem der großen Vordenker für Solidarität, Kohäsion und Entwicklung durch Bildung und Forschung in Europa.
Braindrain und Braingain thematisieren
Deutschland kann hierfür eine kräftige Stimme sein und darf sich auch nicht zu schade sein, eigene Akzente zu setzen. So standen vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise in den südeuropäischen Ländern, die nach wie vor massive Auswirkungen auf den Hochschulsektor hat, 2013 Sondermittel des Auswärtigen Amtes in Höhe von 1,5 Millionen Euro für die gesamte Region von Zypern bis Portugal zur Verfügung. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) nutzte dieses Geld unter dem Titel des „Akademischen Zukunftsfonds Südeuropa“ für Sprachförderung, kurzfristige Mobilität und einen intensivierten Hochschuldialog mit Südeuropa.
Diese DAAD-Mittel sollten jetzt für die nächsten drei Jahre um 3 Millionen Euro auf 4,5 Millionen Euro ausgeweitet werden – eine kleine Summe in Relation zu den Einnahmen des deutschen Staatshaushalts über die gut verzinsten Staatsanleihen an den griechischen Haushalt. Aber sie gewinnt sicherlich um ein Vielfaches an Wert, wenn parallel zur konkreten Unterstützung endlich die ehrliche Diskussion über die dramatische Wirklichkeit von Braindrain und Braingain in Europa damit befördert wird.
■ Der Autor ist Sprecher der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der SPD-Bundestagsfraktion