Im Theater des Krieges

SARAJEVO Wer in Sarajevo von einem Attentat erzählt, weckt gleich die Erinnerung an weitere Akte der Gewalt. Das Dokumentartheater von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura sucht einen Pfad im Dschungel der Geschichten

VON SONJA VOGEL

Ein Schuss knallt im SARTR, dem Sarajevoer Kriegstheater. Dann noch einer. Der Zuschauerraum des kleinen Theaters, das während der Belagerung der bosnischen Hauptstadt von 1992 bis 1996 gegründet wurde, ist abgedunkelt. Beleuchtet ist nur ein Tisch, überhäuft mit Dokumenten und Büchern. Dahinter sitzen die Schauspieler Armin Wieser und Benjamin Bajramovic, der Regisseur Hans-Werner Kroesinger, die Filmemacherin Regine Dura.

Zwei Schüsse. So kurz vor dem Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs weiß jeder, dass es die sind, mit denen Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie unweit des heutigen SARTR an der Lateinerbrücke niederstreckte. Dann spricht Armin Wieser: „Als ich zum ersten Mal auf einen Menschen zielte, habe ich gezittert. Nun ist es anders.“ Der Bericht, namenlos vorgetragen, wird vielen noch bekannt sein, er stammt nicht vom Attentäter Princip, sondern von einem Sniper der bosnisch-herzegowinischen Streitkräfte, als Sarajevo 1992 unter dem Dauerbeschuss der bosnisch-serbischen Armee lag.

Mit diesen übereinandergeblendeten Sarajevoer Ereignissen, die beide einen für Europa folgenreichen Krieg nach sich zogen, beginnt das dokumentarische Theaterprojekt „1914/2014: Schlachtfeld Erinnerung“ von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura, das sie im Auftrag des Goethe-Instituts umsetzen. Beinahe ein Jahr recherchierten sie für das Projekt: in Belgrad, Istanbul und Sarajevo. In allen drei europäischen Metropolen erarbeiteten Dura und Kroesinger mit TheatermacherInnen vor Ort eine Momentaufnahme ihrer Recherchen, die sie jeweils in einer Werkaufführung öffentlich präsentierten. Sarajevo ist die dritte Station dieser Tour. In Deutschland sollen die drei Perspektiven ab 10. Juni im Berliner Theater HAU zusammengefügt werden.

Kampf um Deutungshoheit

Am Anfang des Projekts stand die Überlegung, dass es nicht nur einen Ort oder ein Geschehen und die dazu passende Perspektive gibt, von der aus sich Geschichte lesen lässt. Gerade im ehemaligen Jugoslawien sieht man: Geschichte wird immer wieder neu geschrieben. Im Zusammenbringen sich widersprechender Versatzstücke aus Zeitungsberichten und historischen Dokumenten löst sich die Beschreibungshoheit über die eine gültige Geschichte auf.

Über einem Stakkato aus elektronisch verstärkten Klanghölzerbeats und eingespielten Militärmärschen werden in englischer Sprache Details über die Eroberung Sarajevos durch die k. u. k Armee im Jahre 1878 verlesen oder Passagen aus einem österreichischen Reiseführer von 1910: Seit Österreich-Ungarn dort das Sagen habe, könne man, rezitiert Wieser, „in vollkommenster Sicherheit“ die Einheimischen beobachten. „Pistole – puska, Kaiser – car“, deklamiert währenddessen Bajramovic. Verschiedenste Perspektiven überlappen sich hier – ganz wie es die Quellen hergeben. Versteht man nicht alle Sprachen, sind die Widersprüche in den Übersetzungen kaum zu erfassen. Das verstärkt den Patchwork-Charakter der Werkaufführung, denn was sind die verschiedenen Versionen einer Geschichte anderes als unterschiedliche Sprachen?

Zu Beginn der Werkaufführung hat Kroesinger das Publikum gewarnt, es müsse seine Fantasie nutzen, um den unveränderten Texten im veränderten Kontext eine neue Bedeutung zu geben. „Keine Songs, kein Tanz, wir arbeiten mit Dokumenten“, sagte Kroesinger.

Freiheitskämpfer oder Terrorist?

Dass die Vergangenheit unterschiedlich gesehen wird, ist in Sarajevo besonders deutlich. „Es läuft alles auf Sarajevo hinaus“, sagt der Regisseur. Im Zentrum des Kampfes um Deutungshoheit steht hier Gavrilo Princip. Im sozialistischen Jugoslawien galt der Attentäter als Freiheitskämpfer, im heutigen Sarajevo als Terrorist. Die vormals nach ihm benannte Brücke heißt wieder Lateinerbrücke. Am Jahrestag des Attentats wird es dort konkurrierende Konferenzen geben, während in Belgrad eine Princip-Statue errichtet werden soll – und eine Kopie davon in Ostsarajevo, das zur Republika Srpska gehört.

Doch trotz des Jahrestags kümmert der Erste Weltkrieg in Bosnien kaum jemanden. „Wenn man hier mit Leuten spricht, landet man nach 20 Minuten beim letzten Krieg“, erzählt Hans-Werner Kroesinger. „Die Belagerung von Sarajevo ist immer präsent“, sagt auch Regine Dura.

Das ganz reale Schlachtfeld

Und tatsächlich ist neben dem Schlachtfeld der Erinnerung, den Museen und Gedenkstätten auch noch das ganz reale Schlachtfeld sichtbar: Einschusslöcher in Stein und Beton, sie sind an den Wohnhäusern und am Rand der Hauptstraße bis zur muslimisch geprägten Altstadt Bascarsija zu sehen.

„Wir befinden uns in einem Prozess, wir suchen nach Dingen, die nützlich für uns sein könnten“, erklärte Kroesinger dem Publikum in Sarajevo den unfertigen Charakter des Stücks. Daher ist „Schlachtfeld Erinnerung“ auch ein Selbstversuch der Beteiligten, Konfrontation der eigenen Kriegserinnerung mit anderen Perspektiven, darunter auch die Annäherung an ein europäisches Trauma – denn noch lange nachdem 12.000 Menschen im Kessel von Sarajevo starben, schwieg die internationale Gemeinschaft über ihr Versagen.

Ob dieses Stück durch den Perspektivwechsel verdrängte Geschichte zurück ins Gedächtnis bringt oder Stückwerk bleibt? Wir werden es in Berlin erleben.