„Es wird respektlos geredet“

Beim ersten nationalen Armutsgipfel in Hildesheim formulierten Betroffene ihre politischen Forderungen. Ein Gespräch mit dem Sprecher der Armutskonferenz, Hans-Jürgen Marcus

INTERVIEW VON FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Herr Marcus, was für ein Pech für Sie, dass die Unterschichtsdebatte schon wieder abgeebbt ist, bevor der erste nationale Armutsgipfel tagte.

Hans-Jürgen Marcus: Wir sind im Armutsbereich ja gewohnt, dass Debatten über Armut relativ kurzlebig sind. Interessant war, dass bei diesem Treffen diese Diskussion gar kein Thema war, weil man wenig Interesse an Begriffsdebatten hatte.

Und die – zumindest am Rande – auch inhaltliche Diskussion der letzten Wochen?

Die war insofern Thema, als da noch einmal darauf hingewiesen wurde, dass über Armut in Deutschland relativ respektlos geredet wird. Das wurde vor allem an der Missbrauchsdebatte fest gemacht mit Stichworten wie „Parasiten“, „soziale Hängematte“ und „Recht auf Faulheit“. Das hat eine Tradition, die schon mit den beiden Bundeskanzlern vor Frau Merkel begonnen hat.

Ist dann das einzig Neue am Armuts-Diskurs, dass sich neben den Politikern eine breite Öffentlichkeit über Florida-Rolf ereifert?

Ich sehe es eher so, dass wir eine Polarisierung haben: Auf der einen Seite eine Fortsetzung des Stammtisch-Niveaus und auf der anderen durchaus eine erheblich größere Nachdenklichkeit in der Bevölkerung, die meines Erachtens auch etwas mit der Betroffenheit von wesentlichen Mittelschichtssegmenten zu tun hat – Stichwort Hartz IV.

Ein wesentliches Anliegen der Konferenz war es, dass sich die Betroffenen selbst politisch artikulieren. Was für Leute sind gekommen?

Ich fand das Interessante, dass unter den rund 50 Teilnehmern sehr unterschiedliche Biographien vertreten waren. Es fängt bei der Alleinerziehenden an, die aufgrund dieser Situation nicht arbeiten konnte und geht bis zu einem Menschen, der einen ordentlichen Job als Erzieher hatte, sich zum Sozialpädagogen weiter qualifizierte und dann aufgrund seiner starken Sehbehinderung nur ABM-Stellen bekam – und heute nicht einmal mehr die. Es gibt nicht den Armen schlechthin in Deutschland.

Sind zu Ihrer Konferenz eher die Armen mit hohem Bildungsabschluss gekommen?

Es gab durchaus auch Vertreter, die aus langer Armut gekommen sind und keinen höheren Schulabschluss haben.

Glauben Sie, dass es Ihnen so gelingt, dem Klischee der politisch desinteressierten Armen entgegen zu treten?

Das ist genau der Punkt. Wir wollten deutlich machen, dass es, nachdem wir so lange eine Armutsdiskussion in Deutschland haben, endlich auch Orte geben muss, wo die Diskussion auch mit den Betroffenen selbst geführt wird. Die Menschen haben vernünftige Vorschläge, was ihre Situation verbessern könnte.

Wie konkret wurden diese Vorstellungen?

Es gab thematisch zwei Stränge: Öffentlich mit Respekt über Armut zu reden und Arme auch so zu behandeln. Das bezieht sich auf gesellschaftliche Verantwortungsträger – noch stärker aber auf die Erfahrungen, die arme und arbeitslose Menschen in Jobcentern und bei Behörden machen, wo sie willkürliche Termine und sonderbare Präsenzzeiten gesetzt bekommen, wo es einen stigmatisierenden Schalter für ALG-II-Empfänger gibt. Das zweite Thema war, wie man Betroffene stärker beteiligen könnte: Da gab es den Vorschlag, in den Kommunen regelmäßige Gespräche zwischen Amtsmitarbeitern und Betroffenengruppen einzurichten, um gegenseitig mehr Verständnis zu entwickeln. Das ging auf politischer Ebene bis hin zur Frage, ob es nicht einen Armutsfestigkeits-TÜV für Gesetze im Bundestag geben müsste.

Ist denn jemand aus der Politik oder den Kommunen gekommen?

Nein, die waren aber auch nicht eingeladen. Wir hatten das Bundesministerium, das die Tagung auch mitfinanziert hat, eingeladen – von dort ist die Referentin für die Ausrichtung des europäischen Gipfels der Armen gekommen. Ich glaube, es war auch gut so, dass nicht mehr Vertreter da waren, weil so nicht nur die Vorschläge an die Politik im Vordergrund standen, sondern das, was generell zu verbessern ist.

Haben Sie das Gefühl, dass die Armen als potentielle Wähler wieder stärker ins Blickfeld der Parteien geraten?

Ich habe den Eindruck, dass das eher nebengeordnet ist. Wenn ich es despektierlich sagen darf: Es entsteht zunehmend ein volkswirtschaftliches Gefühl dafür, wie hoch die Folgekosten von Armut in den sozialen Sicherungssystemen sind. Ich glaube, dass letztendlich über diese ökonomische Plausibilität ein Antrieb entsteht, sich wieder stärker um diese Zielgruppe zu kümmern.

Und welche Themen wollen Sie selbst in die öffentliche Agenda bringen?

Wir werden in der Armutskonferenz zwei Themen forcieren: Die Partizipation von Betroffenen und die Kinderarmut – und zwar mit der Forderung nach einer eigenen Existenzsicherung unabhängig vom Gesamteinkommen der Familie und der Frage nach Kindergesundheit und Bildung. Es hat doch keinen Sinn, ihnen ein paar Euro für Alkohol und Nikotin zuzusprechen, aber für Schule und Bildung Summen von 1,76 Euro.