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Archiv-Artikel

Gegen die diversen großen Brüder

DATEN UND ÜBERWACHUNG In der Akademie der Künste wurde über „Leben als Big Data“ diskutiert – ohne Fortschrittsskepsis, dafür mit dem Appell, neue Technologie als zivile Errungenschaft zu begreifen

Jede Spitze gegen die Untätigkeit der Politik wurde spontan beklatscht – ein Ablenkungsmanöver von der eigenen Hilflosigkeit?

Der Raum der Akademie der Künste im Hanseatenweg, in dem sich am Mittwochnachmittag Dietmar Kammerer, John Goetz, Constanze Kurz und Harun Farocki über Überwachung unterhielten, versprüht mit seiner niedrigen Decke und der braunen Wandvertäfelung jede Menge altbundesrepublikanischen Charme. Die stilistisch passende Abhörtechnik für einen solchen Ort wäre wohl die klassische Wanze oder vielleicht ein im Tischblumenstrauß verstecktes Mikrofon. „Big Data“, spätestens seit den Snowden-Enthüllungen in aller Munde, ist auf solche Schlapphuttechnologie nicht mehr angewiesen. Kammerer, der Moderator des Gesprächs, wies darauf hin, dass die Geheimdienste längst nicht mehr unter Datenknappheit leiden, sondern im Gegenteil regelrecht überschwemmt werden von den Informationen, die die Benutzer von Smartphones und Computern aus freien Stücken über Facebook und andere Kanäle preisgeben.

„Leben als Big Data“: Den Titel der Veranstaltung legte der Medienwissenschaftler und Überwachungsexperte Kammerer so aus, dass die Überwachungstechniken in ihrem Zugriff auf die Welt diese nicht nur erfassten, sondern eigentlich erst, als moderne, immer schon datengetränkte Welt gleichzeitig konstruierten. Aus der Perspektive der Überwachung fallen Leben und Daten in eins. Etwas unter den Tisch zu fallen droht dabei die umgekehrte Perspektive: Wie lebt es sich denn eigentlich als und mit Big Data? Wie geht man im Alltag, auch jenseits von Passwortwechsel und verschärfter Privacy-Einstellung, mit der Erkenntnis um, dass immer mehr Aspekte des eigenen Lebens als Daten aufbereitet werden – teilweise sogar von einem selbst?

Eine solche, phänomenologische Perspektive auf die Enthüllungen der letzten Monate blieb das im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Schwindel der Wirklichkeit“ platzierte Gespräch weitgehend schuldig, sie kam höchstens vor in einem Hinweis Farockis darauf, wie allgegenwärtig Überwachungsbilder auch im Feld der Ästhetik, zum Beispiel im Spielfilm, inzwischen geworden sind. Auch seine eigene großartige, derzeit im Hamburger Bahnhof ausgestellte Videoinstallation „Ernste Spiele“ hätte der Filmemacher, der sich seit Jahrzehnten mit denkenden Bildern beschäftigt, nennen können: Die zeigt, wie amerikanische Soldaten vor ihrem Einsatz im Irak mittels digitaler Selbstbilder auf die Gefechte vorbereitet werden – und wie sie nach dem Einsatz mittels anderer digitaler Selbstbilder ihre traumatischen Erfahrungen ein weiteres Mal durchleben. Stattdessen ging es in der Diskussion hauptsächlich um Handlungsanweisungen für den Widerstand gegen die diversen großen Brüder – was natürlich andererseits verständlich ist angesichts einer massiven Verunsicherung, die man auch am Mittwoch wieder an den Reaktionen des Publikums ablesen konnte: Jede Spitze gegen die Untätigkeit der Politik wurde spontan beklatscht; es fällt nicht schwer, darin ein psychisches Ablenkungsmanöver von der eigenen Hilflosigkeit zu sehen. Der Journalist Goetz empfahl als individuelle Reaktion auf die Sammelwut diverser Behörden und Konzerne Verschlüsselung, als gesellschaftliche Reaktion Gegenspionage. Auch Kurz, Sprecherin des Chaos Computer Club, machte das progressive Potenzial der neuen technologischen Kommunikationskanäle gegen grundsätzlichere Fortschrittsskepsis stark und sprach sich dafür aus, sie als zivile Errungenschaft zu verteidigen, anstatt in aggressiven Rückzugsgefechten die militaristische Sprache der Abhörer zu übernehmen.

Ein wichtiger Hinweis an einem Nachmittag, an dem, gerade in den Diskussionsfragen gegen Ende, auffällig oft von Waffengleichheit, Kriegszuständen und Ähnlichem die Rede war.

LUKAS FOERSTER