: LEERES GLAS, VOLLES GEDÄCHTNIS
VON DIETRICH ZUR NEDDEN
Statt in der weltweiten Wirrnis halbblind zu fischen, schlug Kollege Weckerling neulich ein Echtbuch auf, ein voluminöses Nachschlagewerk. Es heißt „Thesaurus der exakten Wissenschaften“ und ist im Original bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts erschienen, exakter: 1997.
Exakt unter dem Stichwort „Speicher, Gedächtnis“, so schilderte der schusslige, deshalb gramgebeugte Weckerling am Telefon, stellten die Autoren Fragen, die heute dringlicher denn je zu lösen wären, weil es morgen vielleicht zu spät sei.
„Gemach, gemach“, sagte ich, um eine Atempause zu gewinnen. Es glückte und rief etwas wach, das mir kürzlich mein jüngerer Sohn zugespielt hatte, eine Erkenntnis Daniel Düsentriebs: „Je mehr ich denke, desto weniger fällt mir ein.“ – „Ha, ha, schönen Dank“, murrte Weckerling und las geschwind aus der „Wunderkammer“-Schwarte vor: „Wie soll unser individuelles Gedächtnis noch die Mühe des Lernens auf sich nehmen, wenn es durch die technischen Datenspeicher, durch zahllose externe ‚Gedächtnisse‘ entlastet wird?, fragen die Autoren. Schließlich bringen sie das Szenario auf den Punkt: ‚Wird dem Zeitalter der vollen ein Zeitalter der leeren Köpfe folgen?‘“ Es galt, dank der Steilvorlage einen wenigstens schmalspurigen Treffer zu landen: „Wir leben längst mittendrin, Alter.“
Als wir uns bald hernach auf zwei, drei Bier trafen, brachte ich die Kopie eines Vortrags mit, die ein prominenter Hirnforscher gehalten hatte. Mir war die Powerpoint-Pracht im Zuge der Recherchen für ein, ähem, Essay untergekommen. „Seit 1997 scheint die Forschung weitere Schritte vorwärts gegangen zu sein, hinab womöglich in eine Leere der eigenen Köpfe. Wie exakt die exakten Wissenschaftler mit ihren Begriffen hantieren, wie inflationär, malen wir jetzt nach“, sagte ich.
Jener Fachmann teilte ein sogenanntes explizites Gedächtnis in ein Wissens- und Faktengedächtnis, ein Vertrautheitsgedächtnis und ein episodisches Gedächtnis, das er wiederum in ein autobiografisches, ein Quellengedächtnis, ein Ortsgedächtnis und ein Kontextgedächtnis tranchiert.
Weckerling geriet in sachte Verwirrung, die ich wonnevoll aufzuheizen gedachte. „Damit nicht genug, logo. Neben dem expliziten finden wir ein implizites Gedächtnis und zwischen diesen beiden, die der Experte seziert, setzt er ein emotionales Gedächtnis, halbiert in positiv und negativ.“ Unserm Plan entgegen bestellte Weckerling ein viertes Bier, während ich mich begnügte, auf die nächsten fünf Abzweigungen des impliziten Gedächtnisses lediglich mit dem Finger zu deuten.
Über die zig Organisationsformen hinaus wählte der prominente Hirnforscher eine Zeitstruktur eigens für das explizite Gedächtnis, die er in ein Augenblicks-, ein Kurzzeit-, ein „intermediäres“ und ein Langzeitgedächtnis gliedert. „Herrje“, seufzte Weckerling und wechselte zu Hochprozentigem, exakter gesagt: bestellte zwei Jonge Genever. Wir leerten die Gläschen mit einem Salut auf jedwede Leere und all die Fülle an Erinnerungen jenseits abstrakter Begriffe.