Vom Aasgeruch der Gesellschaft

THEATERTREFFEN Auf andere herabzusehen, macht dem Menschen doch die größte Freude. Davon erzählten die Stücke „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Reise ans Ende der Nacht“

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Es gärt noch einmal gewaltig, das frühe 20. Jahrhundert, in zwei Inszenierungen, die aus München zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen waren. Tief in faulige Blasen stechen die Texte von Marieluise Fleißer, „Fegefeuer in Ingolstadt“, 1924 geschrieben, und von Louis-Ferdinand Céline, „Reise ans Ende der Nacht“, 1932 veröffentlicht. Von dem Ekel, mit denen die Figuren in beiden Texten ihre Mitmenschen betrachten, sind die Inszenierungen durchtränkt. Nur wirkt der Zugriff, mit dem die Regisseurin Susanne Kennedy Fleißers Anatomie einer katholisch geprägten, kleinstädtischen Gehässigkeit in den Münchner Kammerspielen auf die Bühne gebracht hat, um eine Eiszeit kälter und erbarmungsloser als Frank Castorfs dampfende Maschine aus dem Münchner Residenztheater.

Das Licht und der Ton lassen in der Guckkastenbühne von „Fegefeuer“ – das Stück war im Hebbeltheater zu sehen – an Isolationsfolter denken, von Anfang an. Die Konturen der wenigen Dinge, von Wänden, Türen und Kruzifix, verwischen ins zitternd Unscharfe, mittels einer Projektion. Die Gesichter der Schauspieler, ihre nackten Beine, glänzen wie mit Vaseline verkleistert. Wie Schaufensterpuppen sind sie in den Raum gestellt, die Abstände zwischen ihnen unüberwindlich. Eine berührungslose Welt, die erstaunlich viel Ähnlichkeit mit Ausblicken auf eine Zeit hat, in der Maschinen den Menschenkörper besetzen.

Es könnte ein Paar in dieser Geschichte um die schwangere Olga (Cigdem Teke) und ihren an einer Hautkrankheit leidenden Mitschüler Roelle (Christian Löber) geben; aber die tiefe Ablehnung des eigenen Körpers und der Selbsthass, den eine schwarze Pädagogik ihnen mitgegeben hat, verhindern das. Roelle versucht das Fehlen jeglichen Mitgefühls auszugleichen mit religiöser Ekstase, dem einzigen erlaubten Zustand sinnlicher Erregung, und zieht sich damit in dieser Gesellschaft, die ihre Beziehungen allein über Verachtung regelt, doch nur noch mehr Spott zu. Wie er dasteht, in Christus-Haltung im kalten Licht, eine fleischgewordene gotische Figur, ist er eine Chiffre für das Scheitern einer Gesellschaft, die ihr Selbstwertgefühl nur über Ausgrenzung herstellen kann.

Castorf mit Spektakel

Marieluise Fleißer gehörte bald zu den von den Nationalsozialisten geschmähten Autoren. Der französische Autor Céline, der mit seinem Roman „Reise ans Ende der Nacht“ lauten Skandal erzeugte, wurde später zu den Bewundern der Nazis. In einer Szene von Castorfs im Haus der Berliner Festspiele aufgeführten Spektakel wünscht er der Stadt Paris, die Deutschen würden recht schnell einmarschieren. Vom französischen Patriotismus hatte er beziehungsweise sein Alter Ego Ferdinand Bardamu schon nach wenigen Tagen im Schützengraben des Ersten Weltkriegs die Nase voll. Aus der Verlogenheit der Kriegsbegeisterung erwächst Hass auf alle Ideologien, Hierarchien, Institutionen. Und mit diesem Blick bereist er in der „Reise ans Ende der Nacht“ die USA und die französischen Kolonien in Afrika.

Das ist für Frank Castorf, der den Glauben, man könne sich irgendwie auf der Seite der Guten in Sicherheit bringen, schon immer für einen Irrtum hielt, ein gefundenes Fressen. Hat man die verwirrende Exposition, die wimmelnd von rassistischen Tiraden gleich zu den Kolonisatoren in den Kongo führt, erst mal überstanden, fädelt man sich langsam ein in das Kaleidoskop wechselnder Schauplätze, das auf dem Karussell der Drehbühne in vielen Buden und Verschlägen ineinander verschachtelt ist. Die Figur des Ferdinand, das Alter Ego Célines, ist dabei oft gedoppelt, Bibiana Beglau spielt in grotesker Erschöpfung den als Landesverräter verfolgten Autor Céline, der aus der Erinnerung erzählt, was Franz Pätzold dann als junger Mann erlebt.

Auf all seinen Stationen begegnen ihm, beinahe wie einem Parzival oder Peer Gynt, Frauen, mit denen er stellvertretend sein Verhältnis aushandelt – und eigentlich behandelt er sie alle schlecht, was werfen sie sich ihm auch an den Hals! Dass einige davon Huren sind, passt nun hervorragend zu Castorfs Vorliebe, großbusige Schauspielerinnen mit riesigen Federbüschen am Hintern und sonst wenig mehr über die Bühne stolzieren zu lassen, sie aber auch zu hetzen, zu jagen, stolpern und fallen zu lassen. Im Übrigen spielen diese Frauen, Britta Hammelstein, Katharina Pichler, Michaela Steiger und Fatima Dramé, großartig.

Dass die Inszenierung oft sehr komisch ist, dass man über das überdrehte, sich selbst karikierende Spiel lachen muss, bringt einen als Zuschauer ganz schön in die Klemme, denn eigentlich will man doch Abstand halten zu dieser rasenden Wut, dieser vulgären Gemeinheit.

Es ist ein besonderer Effekt des Theatertreffens, dass die Arbeit der hier noch unbekannten Susanne Kennedy in gewisser Weise geholfen hat, Castorf noch einmal zu schätzen. Weil ihm manche Kunstgriffe inzwischen zu Manierismen geworden sind, hat das immer gleiche Erscheinungsbild seiner Stücke an seinem Stammhaus, der Volksbühne in Berlin, den Blick auf den Inhalt teils auch verstellt.

Nach Kennedy blickt man sozusagen mit frisch geputzten Augen auf Castorf. Und fragt sich, was ist eigentlich aus dem tiefen Misstrauen in den Menschen im letzten Jahrhundert geworden? Historisch ad acta gelegt und überwunden? Oder finden sich bei Fleißer und Céline nicht doch Zustandsbeschreibungen, die weniger überholt sind, als einem lieb sein kann?