: Unechter Fanatiker
Wir vernehmen die Botschaft, jedoch: Wir glauben sie nicht. Mit „Gottes kleine Krieger“ schreibt Kiran Nagarkar den falschen Roman
VON KATHARINA GRANZIN
Später Ruhm kann ja auch ganz schön sein. Kiran Nagarkar ist kein junger Mann mehr. Er hat schon viel geschrieben in seinem Leben, darunter Theaterstücke, Drehbücher und vier Romane, einen auf Marathi, drei auf Englisch. In der indischen Literaturszene lag er immer ein bisschen quer und machte sich in Maharashtra ernsthaft unbeliebt, als er beschloss, seine literarische Produktion von Marathi auf Englisch umzustellen. In deutschsprachigen Landen war Nagarkar bisher eher in Maßen erfolgreich. Doch die Ruhe scheint vorbei zu sein. Der Zeitpunkt dafür ist eigentlich eher ungünstig. Denn Nagarkars neues Buch, „Gottes kleiner Krieger“, ist der bei weitem schwächste seiner Romane, sosehr er neulich, beim Indien-Schwerpunkt auf der Buchmesse, auch gefeiert worden sein mag.
Er habe sich ungefähr neun Jahre lang mit dem Thema beschäftigt, sagt Nagarkar in Interviews, und, wie er gern hinzufügt, immer wieder Pausen einlegen müssen, weil sein Titelheld ihm so auf die Nerven gegangen sei. Das ist sympathisch. Denn der Autor hat sich für diesen Roman nichts Geringeres vorgenommen, als zu zeigen, wie ein fanatischer, fundamentalistischer Charakter funktioniert. Nagarkar ist nicht der Erste, der sich an der literarischen Aufarbeitung des Themas versucht, und nicht der Erste, der mit dem Versuch nicht gänzlich überzeugen kann. Während aber ein John Updike („Terrorist“) oder ein Mohammed Moulessehoul alias Yasmina Khadra („Die Attentäterin“) seine Geschichte aus dezidiert amerikanischer bzw. europäisch-arabischer Perspektive und dem Gefühl der aktuellen Bedrohung heraus entwickelt, verfolgt Nagarkar einen deutlich universelleren Ansatz. Möglicherweise liegt genau darin das Problem.
Es beginnt als scheinbar normale Familiengeschichte. Der junge Zia wächst, zusammen mit seinem älteren, ständig kränkelnden Bruder Amanat, in einer liberalen muslimischen Familie auf. Der Vater ist ein renommierter Architekt, die Mutter eine charmante Lebedame. Weiterhin gehört zum Haushalt eine frömmelnde Tante, die alles daransetzt, aus ihrem Lieblingsneffen einen guten Muslim zu machen.
Das scheint nicht schwierig zu sein. Doch neigt der Junge früh zu gewalttätigem Extremismus, was sich erstmals in einer tödlichen Attacke auf den Hund eines hinduistischen Kioskbesitzers zeigt. Später, als Halbwüchsiger im exklusiven Internat, beweist Zia seine Unabhängigkeit von der christlich geprägten Umgebung, indem er heimlich an der matam-Prozession zur Trauer um die Enkel des Propheten teilnimmt und sich dabei ins blutige Delirium geißelt. An dieser Stelle sind erst 100 der beinahe 700 Seiten des Romans um, und doch hat man nach dieser Exposition schon den größten Vorrat an gutem Willen verbraucht.
Auf diesen ersten 100 Seiten hätte der Autor es schaffen müssen, eine glaubwürdige Grundlage zu legen für das, was er zeigen möchte: dass ein fanatischer Charakter nicht unbedingt von äußeren Umständen zum Fanatismus getrieben worden sein muss, sondern eben einfach so ist, wie er ist. Das ist eine schwer zu belegende These, weil sie uns, wenn sie stimmt, die Antwort auf ein „Warum?“ verweigern muss. Wie aber lässt sich diese Behauptung in einem Roman mit Leben füllen?
Kiran Nagarkar ist ein brillanter Autor mit vielen herausragenden Qualitäten. Die Kunst, einen Charakter vielschichtig und glaubwürdig aufzubauen, gehört nicht unbedingt dazu, was aber in seinen bisherigen Romanen nicht gestört hat. Die eher burleske Kindheitsgeschichte „Ravan & Eddie“ lebt geradezu von einer gewissen Überzeichnung der Charaktere. „Krishnas Schatten“ ist ein grandioser historischer Roman von hohem mythischem Gehalt, dessen rätselhaften Figuren eine ambitionierte charakterliche Feinzeichnung nur geschadet hätte. Doch „Gottes kleiner Krieger“ ist von anderem Kaliber, will gleichzeitig Thesenroman und Charakterstudie sein.
Vielleicht geht das gar nicht zusammen, auf jeden Fall funktioniert es hier nicht. So, wie Nagarkar ihn vorführt, glauben wir nicht, dass einer wie Zia echt sein kann. Er zeigt und zeigt und bleibt doch im Vordergründigen der Handlung stecken: Zia, der versucht, Salman Rushdie zu töten. Zia, der zuerst Terrorist und dann fundamentalistischer Christ wird. Am Schluss empfängt er gar die yogischen Weihen eines tantrischen Gurus: Er bleibt dennoch der, der er ist. Ein Fanatiker. Ja doch! Wir können nicht umhin, die Botschaft zu vernehmen. Doch sie wird nicht wahrer, wenn die Figur, die sie tragen soll, nur durch möglichst viele verschiedene Lebenslagen hindurchdekliniert wird, aber nicht aus sich selbst heraus zum Leben erwacht. Zia, du bist einfach langweilig! Oder ist eben das das wahre Wesen des Fundamentalismus?
Eine gänzlich andere Qualität nimmt die Lektüre dort an, wo Nagarkar in die Haut von Zias Bruder Amanat schlüpft, einem intellektuellen Skeptiker und agnostischen Spötter, der seinen Bruder mit mal zynischen, mal emotionalen Briefen ins Reich der Menschen zurückzuholen sucht. Wo Amanat ins Bild tritt, beginnt das Buch plötzlich zu leben und gewinnt an intellektueller Schärfe. Nur zu gern würde man den Roman über den indischen Mystiker und Religionsreformer Kabir, den Amanat schreibt, ganz lesen, und nicht nur den Auszug, den wir durch Zias Lektüre vermittelt bekommen. Dieses Kabir-Buch nämlich scheint der Thesenroman zu sein, den Nagarkar wirklich hätte schreiben sollen. Amanat hätte es verdient, dass jemand sein Werk zu Ende bringt.
Kiran Nagarkar: „Gottes kleine Krieger“. Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. A1 Verlag, München 2006, 712 Seiten, 28,80 Euro