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Archiv-Artikel

Platz für die Revolution

So, und jetzt habe ich Zeit (II): Die Statistik sagt: Niemand in Europa arbeitet so viel wie die Polen. Und doch, es gibt einen Ort, an dem die zur Ware verkommene Zeit aufhört, Leere zu produzieren. Sagt ein heillos überarbeiteter Journalist aus Warschau und trinkt Bier in der Provinz

■ Zeitmangel: Wer kennt ihn nicht? Er ist Effekt von und Voraussetzung für eine Dynamik, die alle sozialen Verhältnisse unter das Vorzeichen der Wertschöpfung stellt. Grund genug für eine Artikelreihe. Denn: Wann hört das auf und was passiert dann? Was passiert mir, wenn ich mir keine Zeit nehme, sondern sie habe?

von EDWIN BENDYK

Im Sommer sind polnische Zeitungen und Magazine üblicherweise voll von Ratschlägen, wie man den Urlaub effizient und sinnvoll zubringen könnte. Dieses Jahr jedoch wollten die Artikel ihre Leser beinahe einhellig davon überzeugen, dass die beste Strategie für die Ferien sei, gar nichts zu tun. Psychologen, Ärzte und verschiedene andere von den Journalisten befragte Experten verlautbarten: Faulheit ist keine Sünde. Warum war ich so überrascht? Experten erklären schließlich jedes Jahr, wenn es warm wird, dass Erholung notwendig ist, will man anschließend gute Arbeit leisten. Allerdings meinten sie bislang mit „guter Erholung“ immer sinnvolle Aktivitäten wie Sport, Sightseeing oder Lektüre. Also: Was hat sich geändert seit dem vorigen Sommer?

Meine These lautete: Der Transformationsprozess unserer Gesellschaft vom Sozialismus zum Kapitalismus Marke Max Weber ist zu seinem erfolgreichen Ende gekommen. Wir haben das Credo von Benjamin Franklin „Time is money“ und die protestantische Arbeitsethik komplett internalisiert, folglich sind wir unfähig, ein Leben voller sinnloser Tätigkeiten zu akzeptieren, Ferien hin oder her. Wer es sich leisten kann, verbringt seinen Urlaub daher sorgsam geplant und organisiert. Wer sich das nicht leisten kann, geht ins Ausland, um einen Job für etwas zusätzliches Geld zu machen. So wie die berühmten polnischen Klempner. Gute Thesen fordern Beweise. Ich begann verschiedene Statistiken zu lesen.

Gehen wir zurück in die frühen Neunzigerjahre, in die Zeit kurz nachdem der Kommunismus kollabiert ist. Auf die Frage: „Nehmen wir an, Sie haben viel Geld. Würden Sie trotzdem arbeiten gehen?“, antworteten 48 Prozent der interviewten Polen: „Schon, aber nur für zwei Stunden am Tag.“ Gerade mal 11 Prozent hielten es für eine gute Idee, weiter Vollzeit zu arbeiten. Andere Studien belegen, dass nur 26 Prozent der Zwanzig- bis Zweiundzwanzigjährigen „Arbeit als wichtig für ihre Entwicklung“ ansahen. 60 Prozent hingegen erklärten „Ich hasse es, in Eile zu sein“; „Wettbewerb ist nichts für mich“; „Ich bin nicht besonders ehrgeizig“. Ergibt das nicht das Bild von einer total faulen Gesellschaft, die Freizeit schätzt und als Maßstab für Lebensqualität ansetzt? Aber dann, in einem Zeitraum von nur zehn Jahren, haben sich die Dinge radikal verändert. Gönnen wir uns einen Blick auf die aktuelle Europäische Studie über Wertvorstellungen (European Value Study): „74 Prozent der Polen sagen, dass Arbeit extrem wichtig ist.“ Die Studie berücksichtigt 32 Länder, und mit dieser Rate setzt sich Polen an deren Spitze. „Arbeit sollte an erster Stelle stehen, auch wenn das bedeutet, weniger Freizeit zu haben“. 64,4 Prozent der Polen bejahten diesen Satz. Zum Vergleich: 65,9 Prozent der Niederländer waren mit diesem Statement nicht einverstanden. „Um Begabungen zu entwickeln, bedarf es eines Arbeitsplatzes“: 91,4 der Polen erklärten sich mit dieser These einverstanden; 47,6 Prozent der Niederländer widersprachen. Und schließlich: „Es ist erniedrigend, Geld entgegen zu nehmen, ohne dafür gearbeitet zu haben.“ 65,2 Prozent der Polen stimmten zu; 65,9 Prozent der Niederländer wiesen diese Ansicht zurück.

Den Worten folgten Taten. Laut der letzten Erhebung der OECD haben erwerbstätige Polen 1.983 Stunden gearbeitet (etwa so viel wie die Tschechen), und einzig die Südkoreaner haben sie mit 2.432 Stunden übertroffen. Die Holländer hingegen kamen nur auf 1.357 Stunden, das ist der niedrigste Wert.

Wir haben uns also zu perfekten Workaholics entwickelt, die keine Zeit zu verlieren haben. Zeit ist zu einer Ware geworden, die wir in Form von Arbeit zu Geld machen können, für das wir keine Zeit haben, es auszugeben. Glücklicherweise intervenieren jetzt unsere Experten und zeigen uns, dass wir freie Zeit brauchen, selbst für sündiges Faulsein. Schließlich müssen wir uns nicht nur für die kommende harte Arbeit erholen, sondern auch fürs Konsumieren.

Diesem erhellenden Vorschlag Folge leistend, bat ich meinen Arbeitgeber um ein paar Wochen Urlaub; drei Jahre hatte ich fast ununterbrochen gearbeitet. Er stimmte zu, und ich fuhr in ein kleines Dorf in den von mir geliebten Ostkarpaten, nahe der slowakischen Grenze, und mietete mich bei einer Bauernfamilie ein. Die hatte die neue Bedeutung von Zeit, die die Europäische Union von den Bauern einklagt, bereits entdeckt. Während des Kommunismus waren wir daran gewöhnt, dass sämtliche Güter knapp waren, allen voran Nahrungsmittel. Nach dem Kollaps entdeckten wir wieder die Fülle und die kapitalistische Grundregel: Je mehr du arbeitest, desto mehr kriegst du. Und dann, nachdem wir der EU beigetreten sind und ihrer Agrarpolitik zugestimmt haben, mussten unsere Bauern begreifen, dass mehr arbeiten keine gute Idee ist, weil dadurch mehr Milch produziert wird. Die postmoderne europäische Arithmetik nämlich lehrt: Mehr Milch als die gesetzte Quote bedeutet weniger Geld. Mit anderen Worten: Je weniger du arbeitest, desto mehr kriegst du. Doch erinnern wir uns: Für die Polen ist es eine Schande für Nichtarbeit, d. h. für Faulheit, Geld anzunehmen.

Ich konnte meinen Gastgebern bei ihrer bewusstseinstechnischen Dissonanz nicht weiterhelfen und entschloss mich zu einem kleinen Spaziergang ins Dorf. Mit Rücksicht auf die Ratschläge der Experten ging ich nur wenige hundert Meter bis zum nächsten Laden. Fünf oder sechs Männer standen vor ihm herum. Unmöglich ihr Alter zu bestimmen, irgendwas zwischen dreißig und sechzig. Sie saßen einfach auf den Treppenstufen und einer kleinen Bank und guckten geradeaus. Sitzen und nichts tun. Ich ging in den Laden hinein, kaufte mehrere Biere und gesellte mich zu ihnen. Mit Würde und fast ohne ein Wort akzeptierten sie meine Einladung, und wir tranken gemeinsam Bier und guckten gemeinsam geradeaus. Perfekter Leerlauf. Ich tat nichts.

Mein Kopf aber erinnerte weitere, dunkle Teile meiner Statistiken. Diese besagten, dass weniger als die Hälfte der Polen im erwerbstätigen Alter über einen Job verfügen. Polen hat damit die geringste Erwerbstätigenquote von Europa. Als der Kommunismus kollabierte, hatten 18,5 Millionen Polen Arbeit. Heute sind es nur noch etwas mehr als 14 Millionen. Millionen von sinnlosen und von niemandem benötigten Jobs sind in dem neuen Wirtschaftssystem verschwunden. 2002 erreichte die Arbeitslosigkeit bis zu 20 Prozent. Ganze 80 Prozent der Arbeitslosen erfüllten nicht die Kriterien, um Arbeitslosengeld zu erhalten. Meine Freunde vom Dorfladen gehörten zu diesem dunkleren Teil der Statistik. Wir saßen weiter da, tranken Bier, guckten geradeaus und taten nichts. Perfekte leer laufende Zeit.

Mir schossen Gedanken über die Natur der Zeit in den Kopf. „Time for Revolution“ von Antonio Negri kam mir in den Sinn. Das Buch hatte mir klargemacht, dass meine Situation als überarbeiteter Städter sich nicht allzu sehr von der vor Supermärkten herumsitzender Männer aus dem Dorf unterscheidet. Kronos ist unser Gott, dieser gnadenlose Gott, der seine eigenen Kinder auffrisst. Er frisst unsere Vergangenheit und unsere Zukunft; was wir behalten können, ist die Leere. Negri behauptet, es sei möglich, Ewigkeit zu fordern, die innere Bedeutung von Zeit zu verändern, von Kronos zu Kairos zu wechseln.

Kairos ist der Gott des rechten Augenblicks; er ist ein Bogenschütze, der einen Pfeil auf die Reise durch die Ewigkeit schießt, um ein Ereignis zu formen. Ereignis, Innovation, ein kreativer Akt, der weder perfektes Nichtstun noch wirkliche Handlung ist. Und wieder erinnerte ich mich an die Statistiken. Diesmal sagten sie, dass Polen die am wenigsten innovative Nation der Europäischen Union ist. Wir müssen uns also aus dem Würgegriff von Kronos befreien und uns Kairos zuwenden, wir müssen einen anderen Begriff von Zeit einfordern, eine Zeit, die Teil der Ewigkeit ist und nicht die Verdinglichung von Leere. Wenn uns das gelingt, ist das die größte Revolution.

Auf meiner Suche nach den Quellen für diesen mentalen Wandel bin ich aus meinem Dorf hinausgelaufen und habe mich zu meinem persönlichen Mittelpunkt der Welt begeben. Er befindet sich an der Grenze zwischen Polen und der Slowakei, an einer kleinen Straße, die das polnische Dorf Jasliska mit der slowakischen Stadt Medzilaborce verbindet. Nahe dieser Straße liegt das Dorf Miková. In diesem haben sich die Eltern von Andy Warhol entschlossen, in die USA zu emigrieren. Wurde Warhol danach gefragt, wo er herkomme, hat er geantwortet: von Nirgendwo. Nirgendwo – das ist kein Ort voller kreativer Energie. Perfektes Utopia.

Und dann, am anderen Ende der Straße, Jasliska, ein vormodernes Dorf mit einer Pilgerstätte und dem Heiligenbild der Mutter Gottes. Jedes Jahr versammeln sich tausende von Polen, Slowaken und Ruthenen auf dem Hauptplatz, um mit einer speziellen Zeremonie die Heilige Mutter zu ehren.

Es ist diese kleine Straße, verloren im Irgendwo eines wilden Gebirges, die Utopia mit der Ewigkeit verbindet. Kronos hat hier nichts zu sagen: Das ist der perfekte Platz für die Revolution.

Edwin Bendyk ist Schriftsteller und Redakteur bei der polnischen Wochenzeitung Polityka und lebt in Warschau. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Ines Kappert. Die Zeichnung stammt von Martina Wember