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Archiv-Artikel

Frei sein von Arbeitszwängen

betr.: „Fliehen vor dem Zeitreichtum“ von Tilman Rammstedt, taz vom 4. 11. 06

Ähnliche Erfahrungen wie der Autor mache ich auch, seit ich begonnen habe, für ein Jahr aus der Tretmühle bzw. dem Hamsterrad meines Berufsalltags als Lehrerin auszusteigen. Es ist nicht leicht, den Erwartungen der Mitmenschen zu begegnen, die freie Zeit für etwas ganz Besonderes, mindestens eine Weltreise oder das große kreative Coming-out nutzen. Oder auch die eigenen Vorhaben in Bezug auf den Start eines neuen Lebens zu reduzieren, auf das einfache Genießen des Faulseins und Freiseins von Arbeitszwängen. Entspannung scheint immer nur gedacht werden zu können im Kontext von besonderen Leistungen, als nachträgliche Belohnung sozusagen. Protestantische Arbeitsethik, tief verwurzelt: Arbeiten, Werte schaffen und in einer Phase von viel Freizeit diese zumindest auch „wertvoll“ verbringen.

Moderne Menschen, die gesellschaftlich anerkannt sind, sind immer mit wichtigen Dingen beschäftigt. Wenn sie nicht berufstätig sind, gehen sie eben in einer anderen wichtigen Beschäftigung auf. Sinnloses Tun, Spielen, Kreuzworträtsellösen, Puzzeln, Glotzegucken usw. sind verpönt, solche Aktivitäten gelten eher als Attribute der „Unterschicht“. Ein gutes Buch zu lesen, gilt da schon mehr. Ebenso wie der Besuch von Ausstellungen, Konzerten oder Theatern – also das klassische bildungsbürgerliche Kulturprogramm.

Wenn man viel Zeit hat, verschieben sich die Dimensionen und Maßstäbe. Arbeitslose Menschen machen immer wieder diese Erfahrung, die Strukturierung des Alltags wird schwierig, Zufriedenheit und Glücksgefühle sind oft abhängig vom Wertesystem der (ewig ihren Mangel an Freizeit beklagenden) gestressten Berufstätigen.

DORIS MÖHLHENRICH-MARTENS, Berlin