: Die Kunst, Kinder zu retten
AKTION Eine Internetseite des Familienministeriums appelliert, 55.000 syrische Kinder aufzunehmen. Sie hat nur einen Makel: Sie ist nicht vom Ministerium
■ Flüchtlinge in Syrien: In dem Bürgerkriegsland mit 22 Millionen Einwohnern sind nach Angaben der UNO über 9 Millionen Menschen auf der Flucht. Davon haben sich 6,5 Millionen im Land selbst in sicherere Gebiete gerettet. Wenn Kämpfe näher rücken, müssen sie erneut aufbrechen und anderswo Schutz suchen.
■ Registrierte Flüchtlinge im Ausland: 2,7 Millionen Syrerinnen und Syrer haben sich ins Ausland abgesetzt, vor allem in die Nachbarstaaten Libanon (1.056.089), Türkei (742.816), Jordanien (593.346), Irak (223.113) und Ägypten (137.096). Diese Angaben der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR beziehen sich auf Personen, die bei ihr registriert sind oder sich im Prozess der Registrierung befinden.
■ Tatsächliche Zahl der Flüchtlinge: Sie dürfte noch höher liegen, denn viele kommen zunächst bei Bekannten unter oder mieten sich ein Zimmer, solange das Geld reicht. 49,4 Prozent der Flüchtlinge sind Männer, 50,6 Prozent Frauen, 45,6 Prozent sind zwischen 18 und 59 Jahre alt.
■ Libanon: Für die Nachbarstaaten sind die Flüchtlinge eine erhebliche Belastung. Das gilt vor allem für den Libanon mit seinen knapp 5 Millionen Einwohnern. Hinzu kommt, dass die beiden größten politischen Lager des Landes Gegner beziehungsweise Unterstützer des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad sind. Dies hat bereits wiederholt zu Kämpfen und Anschlägen geführt. Offiziellen libanesischen Angaben zufolge gibt es in dem Zedernstaat derzeit über 1.100 informelle Zeltlager mit zum Teil mangelhaften sanitären Einrichtungen. Inzwischen gibt es Gespräche zwischen der Regierung in Beirut und der UNO über die Errichtung regulärer Flüchtlingslager.
■ Jordanien: Hier wurde am 30. April das neue Flüchtlingslager Asrak eröffnet, das hundert Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Amman in der Wüste liegt. Das ältere Camp Saatari mit etwa 100.000 Bewohnern ist eines der weltweit größten und platzt aus allen Nähten.
■ Deutschland: Hier leben rund zehnmal so viele Menschan wie in Jordanien. Dennoch wurde nur auf gesellschaftlichen Druck hin die Zahl der aufzunehmenden syrischen Flüchtlinge von ursprünglich 5.000 verdoppelt. Neben dem regulären Asylverfahren gibt es aber auch Bundes- und Länderaufnahmeprogramme. Laut einem Antrag der Regierungsparteien im Bundestag vom 7. Mai sind seit 2011 rund 35.000 Syrer nach Deutschland eingereist (Stichtag 31.3.14). In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es rund 5.500 neue Asylanträge von Flüchtlingen aus Syrien. b.s.
VON MARTIN KAUL
BERLIN taz | Es ist ein „nationaler Appell“ mit einer eindringlichen Botschaft: Zuerst taucht das Bild von Familienministerin Manuela Schwesig auf. Dann folgen die Gesichter etlicher syrischer Kinder. Sie tragen Schilder, auf denen steht: „Danke, Manuela Schwesig“, und: „Wir lieben Euch.“ Es sind keine Fotomontagen – diese Bilder entstanden tatsächlich in Syriens umkämpfter Stadt Aleppo. Und es sieht auch so aus, als hätten diese Kinder allen Grund, sich zu freuen.
Denn auf der Homepage der „Kindertransporthilfe des Bundes“ wird seit Montag ein historisches Hilfsprogramm verkündet. Die Seite, die in deutscher und englischer Sprache verfügbar ist, stellt ein „Soforthilfeprogramm des Bundes“ vor und bewirbt die neue Kampagne „1 aus 100“, mit der die Bundesregierung laut Homepage einem Prozent der derzeit nach Unicef-Angaben 5,5 Millionen akut hilfsbedürftigen syrischen Kindern helfen will. „Im Rahmen des Bundeshilfsprogramms können vorübergehend 55.000 Kinder im Alter von bis zu 17 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, sofern ein finanzieller Förderer oder eine Pflegefamilie für sie gefunden wurde“, heißt es auf der Seite, die mit Informationen zu dem Hilfsprogramm gespickt ist und unter dem Logo des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend firmiert.
In einem Werbefilm berichten freiwillige Pflegeeltern über das Glück, ein Kind aus dem Bürgerkrieg in Obhut genommen zu haben. „Als der Anruf kam, dass die Kinder jetzt am Flughafen sind“, erzählt eine junge Frau stockend, „ich hatte solches Herzklopfen. Ich dachte, das ist ernst jetzt.“ Und ein Holocaust-Überlebender sagt: „55.000 Kinder – das würden wir kaum spüren!“
Mit der Hilfsaktion spielt die Kampagne auf ein historisches Beispiel an, das in Deutschland gern zitiert wird: die legendären Kindertransporte 1938/39. Nach den Novemberpogromen gegen die Juden in Nazi-Deutschland hatte die britische Regierung kurzfristig die Einreisebestimmungen gelockert. So konnten binnen wenigen Monaten rund 10.000 jüdische Kinder ins britische Exil gebracht und vor der Verfolgung durch die Nazis geschützt werden.
Ein offenbar vom arabischen Fernsehsender al-Dschasira stammendes Video auf der Kampagnenseite zeigt, wie Familienministerin Schwesig während einer Syrien-Friedenskonferenz in Istanbul ihr Motiv für den „nationalen Appell“ erklärt. Ein Radiobericht über ein unterernährtes Flüchtlingskind in Damaskus habe sie wachgerüttelt, „als Mutter, als Mensch und als Mitglied der deutschen Regierung“, ist aus den deutschen Untertiteln der arabisch übersprochenen Rede zu erfahren.
Doch die Rede ist ebenso ein Fake wie die gesamte Homepage und auch das gigantische Hilfsprogramm. Dahinter steht nicht die Bundesregierung, sondern eine Menschenrechts- und Künstlergruppe um den Berliner Kunstaktivisten Philipp Ruch und dessen Zentrum für Politische Schönheit. In der Vergangenheit machte die Gruppe immer wieder mit gewagten politischen Kunstaktionen Schlagzeilen. 2012 schrieb das Zentrum ein Kopfgeld in Höhe von 25.000 Euro für Hinweise aus, die einen der Eigner des Waffenkonzerns Krauss-Maffei Wegmann hinter Gitter brächten.
Mit ihrer aktuellen Kampagne wollen die Menschenrechtsaktivisten auf die ungelöste Situation der Millionen Menschen im Bürgerkriegsland Syrien aufmerksam machen. „Die Zahlen sind apokalyptisch: 150.000 Tote, 10 Millionen Vertriebene, 5,5 Millionen hilfsbedürftige Kinder in Syrien. Aber die größte Flüchtlingskrise des 21. Jahrhunderts droht in der deutschen Öffentlichkeit einfach unterzugehen“, sagt Philipp Ruch.
Mit der Homepage will die Künstlergruppe der deutschen Regierung nach eigenen Angaben ein „schlüsselfertiges Hilfsprogramm“ an die Hand geben, das die Bundesregierung nur noch umsetzen müsse. Dazu rufen die KünstlerInnen auch interessierte Pflegefamilien und finanzielle Förderer auf, sich zu melden. Man habe sich bewusst dafür entschieden, in der Kampagne zur Aufnahme nur von Kindern aufzurufen, erklärt Philipp Ruch, weil sich sonst die CSU dagegengestellt hätte, die davor warnt, dass erwachsene Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt drängen würden.
■ Die Kampagnenseite findet sich unter www.kindertransporte-des-bundes.de