Auf der anderen Seite der Erde

LITERATUR Manchmal fühlt er sich wie eine Figur aus seinen eigenen Geschichten: zwischen die Seiten gerutscht. Eine Begegnung mit David Albahari in jenem Stadtteil Belgrads, den er in seinen Büchern nie verlassen hat

Die Beiläufigkeit, mit der er an gesellschaftlichen Tabus rührt, ist vielen suspekt. Denn ganz nebenbei verhandelt er Antisemitismus, Rassismus, Homophobie

VON SONJA VOGEL

Kennen Sie den Roman von Thomas Wolfe, „You Can’t Go Home Again“? „Wolfe hat es schon viel früher verstanden“, ist David Albahari überzeugt. Der jüdisch-serbische Schriftsteller sitzt in einer dunklen Ecke des „Mr Black“, eines Cafés im Belgrader Stadtteil Zemun. Im Hintergrund läuft Johnny Cash, Albahari rührt beinahe andächtig in seinem Kaffee. Hier, wo einst die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich verlief, hat der 1948 in Pec, heute Kosovo, geborene Autor seit seiner Kindheit gelebt, bis er 1994 mit seiner Familie nach Kanada emigrierte. Die schmerzhafte Erfahrungen des Fremdseins, die folgten, hat er in viele seiner 14 auf Deutsch erschienenen Romane und Kurzgeschichten einfließen lassen.

Sein aktueller Roman „Kontrollpunkt“ ist eine verstörende Erzählung vom Krieg: irgendwo in Europa, irgendwo an einem von der Welt vergessenen Ort, irgendwo in irgendwelchen Bergen. Dort soll ein Trupp Rekruten einen Kontrollpunkt schützen. Aber vor wem? Seit Tagen oder Wochen haben sie weder Schüsse gehört noch andere Soldaten zu Gesicht bekommen. Ob überhaupt noch Krieg ist? Dem Kommandanten ist es eins. „Wo nichts knirscht, knirscht es am meisten, pflegte er zu sagen“, heißt es im Roman.

Der Krieg als absolute Gegenwart

Die Kritiker wussten sofort: Es handelt sich um den Bosnienkrieg, den grausamsten Abschnitt der jugoslawischen Bürgerkriege. David Albahari aber beharrt darauf, über keinen bestimmten Krieg geschrieben zu haben. „Ich wollte eine Art Fabel über den Krieg im Allgemeinen schreiben“, sagt er. Dennoch ist es das erste Mal, dass einem der Krieg in Albaharis Romanen so nahe kommt. In „Kontrollpunkt“ herrscht er als absolute Gegenwart, niemand kann sich ihm entziehen. Wie viele Bücher von David Albahari hat auch dieses einen sonderbaren Ton, wird getragen von atemlosen und doch beinahe zärtlichen Monologen. Seine Geschichten, in verschachtelten Sätzen erzählt, mäandern eigenartig. Nicht selten sind sie grotesk. Ganz so, wie die Wirklichkeit, vor allem in Serbien, in Zemun.

Es ist ein warmer Frühlingstag. Auf der kilometerlangen Promenade entlang der Save flanieren Hunderte Menschen. Daneben ein modernistischer Wohnklotz, etwas weiter der seit einem Volltreffer durch Nato-Bomben im Jahr 1999 leer stehende Komplex des legendären Hotel Jugoslawija. Dies ist der Knotenpunkt zwischen der Zemuner Altstadt und Neu-Belgrad, dem gigantischen Neubauprojekt Titos. Alles hier ist 60er Jahre. Das „Mr Black“ liegt keine hundert Meter weiter. Oft sitze er hier, erzählt David Albahari, und empfange die Leute, die ihn sprechen wollten.

Viele Möglichkeiten dazu hatten sie in den vergangenen Jahren nicht. Obwohl der Schriftsteller in seinen Romanen immer wieder nach Zemun zurückkehrt. Mit der spezifischen Geschichte zwischen den großen Imperien ist der Stadtteil ohnehin so etwas wie ein Zwischenreich, ein unwirklicher Ort. Und so beginnt hier die labyrinthische Wahngeschichte von „Die Ohrfeige“. „Der Bruder“ spielt größtenteils in der alten Kafana „Brioni“, die sich einst im Erdgeschoss von Albaharis Wohnhaus befand. Heute ist dort ein Laden mit Sporträdern untergebracht.

In Kanada beendet er beinahe jedes Jahr ein Buch. Auch übersetzt er ins Serbische, unter anderem Nabokov, Updike und Shepard. „Was sonst soll ich dort tun?“, fragt er. In Belgrad wiederum habe er für so etwas keine Zeit, denn ständig müsse er jemanden treffen. In seinem Gesicht mit den schmalen Wangen verraten Grübchen die ironischen Wendungen. Jetzt zum Beispiel. Wenn er spricht, entsteht eine andere Welt. Am Ende seiner Ausführungen steht meistens ein Witz, ein Wortspiel, manchmal ein Gleichnis.

Albahari ist an Parkinson erkrankt, die Worte kommen ihm manchmal nur mit Mühe über die Lippen. Die Öffentlichkeit aber scheut er nicht. Mal mischt er sich in die lokale Poetry-Szene, trägt im Kulturzentrum Rex auf der Bühne stehend Gedichte vor. Auf der serbischen Buchmesse im vergangenen Herbst signierte er am Stand seines Verlages Arhipelag seine neue Kurzgeschichtensammlung „Propustena Prilika“ („Verpasste Chance“, noch nicht übersetzt) – mit einem Dutzend Stempeln, das Schreiben mit der Hand fällt ihm schwer.

Neue Konjunktur alter Vorurteile

Doch obwohl Albahari in Belgrad eine Berühmtheit ist und nationale Literaturauszeichnungen wie den Ivo-Andric-Preis oder den NIN-Preis erhielt, hat er mitunter einen schweren Stand. „Viele wollen nicht, dass ein Jude als bekannter serbischer Schriftsteller gilt“, erzählt Albahari. Einer seiner Lektoren habe einmal geschrieben, drei Autoren seien maßgeblich für die serbische Literatur: Aleksandar Tisma, Danilo Kis und David Albahari. Drei jüdische Namen. „Es gibt einige, die das nicht gerne hören“, fügt Albahari hinzu. Denn viele alte Vorurteile haben wieder Konjunktur.

Dass die Nato-Bombardierung 1999 auch vielen Liberalen als Verschwörung der amerikanischen Juden gegen Serbien gilt, ist nur ein Beispiel. Die Beiläufigkeit, mit der Albahari an gesellschaftliche Tabus rührt, ist nicht wenigen suspekt. Denn ganz nebenbei verhandelt er Antisemitismus, Rassismus, Homophobie. Obwohl auch in Serbien der Hass auf Schwule einer der Topoi der neuen Rechten ist und in weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird, wird das Thema beschwiegen. Immer wieder wurde in den vergangenen Jahren auch die Gay Pride von der serbischen Regierung verboten.

„Ich glaube eigentlich nicht, dass Schriftsteller Pflichten haben. Aber es ist eine Pflicht, Begebenheiten herauszufiltern, die diese seltsame Landschaft aus Vorurteilen erzeugt“, sagt Albahari. In Serbien habe es nie eine Diskussion über Homophobie gegeben. Mit diesem Thema steht Albahari im Literaturkanon allein da. In „Der Bruder“ verschwindet ein bis dahin unauffälliger Protagonist in der schmuddeligen Kaffeehaustoilette, nur um Minuten später als Mann in Frauenkleidern vom aufgebrachten Kaffeehaus-Mob zu Tode geprügelt zu werden.

Schlechte Zeit, um einer Gemeinde vorzustehen

Lange Jahre stand David Albahari der jüdischen Gemeinde in Belgrad nahe, machte Kulturarbeit, betreute Kinder, organisierte Lesungen. Die Gemeinde der Hauptstadt war in den 80er Jahren säkular, was weniger am Tito-Staat lag als an den fehlenden Mitteln. „Es gab zwar einen alten Rabbi, aber nicht einmal eine Schule“, erinnert sich Albahari. Schließlich wurde er vom damaligen Präsidenten der Gemeinde aufgefordert, dessen Amt zu übernehmen. Albahari zwinkert verschwörerisch. Man habe ihm versprochen, es sei ein ehrenwertes Amt und das Privatleben leide nicht darunter, sagt er. 1991 nahm er also an.

Noch im selben Jahr begannen die Bürgerkriege – eine schlechte Zeit, um einer Gemeinde vorzustehen. 1992 schaffte es die jüdische Gemeinde, 600 bis 700 ihrer Mitglieder aus dem Kessel von Sarajevo auszufliegen. Jeder durfte nur zwei Taschen mitnehmen, schließlich sollten so viele Menschen wie möglich ausgeflogen werden. Keine fünf Jahrzehnte waren vergangen, seit ein Großteil der jugoslawischen Jüdinnen und Juden von den Nazis und ihren Kollaborateuren ermordet worden war. Und nun musste die Gemeinde aus Sarajevo evakuiert werden, vor allem alte Menschen, Überlebende. „Wir konnten nicht untätig zusehen. Wir mussten damals einfach helfen.“

Aus Sarajevo gerettet

Die Zahl 700 höre sich sehr klein an, sagt Albahari und streicht langsam mit der Hand über den Bistrotisch, ganz so, als müsse er sich dafür rechtfertigen, nicht mehr Menschen aus dem unter Beschuss liegenden Sarajevo gerettet zu haben, während die internationale Gemeinschaft tatenlos zusah.

Drei Jahre später verließ auch er Belgrad. Als Flüchtling sieht sich der Schriftsteller dennoch nicht. „Wir kamen nach Kanada, weil wir das wollten. Weil wir irgendwo leben wollten, wo es keinen Krieg gibt, wo das Leben normal ist, wo alles aufgeräumt ist und sauber, wo einfach alles da ist, wo es sein soll“, sagt er und sein schmaler Mund wird noch schmaler. Mittlerweile ist David Albahari 66 Jahre alt und verbringt die Sommer wieder dort, wo er aufgewachsen ist und sich einmal zu Hause gefühlt hat. In den Regalen der Zemuner Wohnung: jene Bücher, die er schon vor 20 Jahren besessen hat. Die Bibliothek der jüngsten zwei Jahrzehnte steht auf der anderen Seite der Erde. Unmöglich die Vorstellung, beide zu vereinen.

Manchmal fühle er sich, wie eine Figur aus seinen Kurzgeschichten, zwischen die Seiten gerutscht, erzählt er. Er erwache und frage sie: Wo bin ich? In dem einen Zuhause oder in dem anderen? Wolfe habe es eben schon früher verstanden. Es gebe eben keinen Weg zurück nach Hause.

■ David Albahari: „Kontrollpunkt“. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2014, 184 Seiten, 18,95 Euro