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Archiv-Artikel

Die Akte Assange

SCHWEDEN Ist das Ziel hinter der juristischen Verfolgung eigentlich Wikileaks? Manches spricht dafür, anderes für eine Routineuntersuchung. Nur eines ist klar: Die schwedische Justiz agiert widersprüchlich

STOCKHOLM taz | Für Mark Stephens ist die Sache schon lange klar. Ein „politischer Stunt“ sei die Verfolgung von Julian Assange durch die schwedische Justiz, sagte Assanges Londoner Anwalt schon vor Tagen der BBC, ausgeführt von einem Land, das sowieso auf dem Schoß der USA sitze. Das bestätigten nicht zuletzt frische Dokumente, die Wikileaks gerade veröffentlicht habe.

Aus diesen Dokumenten geht etwa hervor, dass Stockholm die eigene Bevölkerung seit Jahren mit Gerede von „Allianzfreiheit“ einlulle, während man hinter den Kulissen eng militärisch und geheimdienstlich mit der Nato und speziell den USA zusammenarbeite. Im Zentrum der durch die Enthüllungen ausgelösten Kritik steht Schwedens Justizministerin Beatrice Ask: Eine Geheimdienstzusammenarbeit mit den USA soll am Parlament vorbei vereinbart worden sein, was verfassungswidrig wäre. Schon gibt es Rücktrittsforderungen gegen Ask.

Eine Verschwörung?

Der eigentliche Grund hinter der juristischen Verfolgung von Assange sei also das Bemühen, Wikileaks mundtot zu machen? Sicher, als einer der Anwälte von Julian Assange muss Stephens diese Töne anschlagen. Aber deutet nicht tatsächlich vieles auf eine Verschwörung hin?

Ein Rückblick: Julian Assange hält sich Mitte August zu Vorträgen in Schweden auf, eingeladen von der christlich-sozialdemokratischen Organisation Broderskapsrörelsen. Wie schon bei früheren Besuchen meidet Assange aus Sicherheitsgründen Hotels. Anna A., eine 31-jährige Pressemitarbeiterin von Broderskapsrörelsen, bringt ihn bei sich zu Hause unter. Man pflegt offenbar auch privaten Umgang. A. twittert über ein Essen mit Assange und einen Tag später über einen gelungenen Abend.

Fünf Tage später aber, am 20. August, taucht Anna A. mit der 26-jährigen Fotografin Sofia W. auf einem Stockholmer Polizeirevier auf. Beide geben Dinge zu Protokoll, die die diensthabende Staatsanwältin sofort veranlassen, gegen Assange einen Haftbefehl wegen Verdachts der Vergewaltigung zu erlassen. Die beiden Schwedinnen erstatten jedoch keine Strafanzeige, die Anklagebehörde ermittelt „von Amts wegen“ aufgrund ihrer Angaben.

Was sie Assange genau vorwerfen, ist bislang Gegenstand von Spekulationen und unbestätigten Lecks aus Justizkreisen. Angeblich soll ein einvernehmlicher geschützter in einen nicht mehr einvernehmlichen ungeschützten Geschlechtsverkehr übergegangen sein. Und in ihrer bisher einzigen öffentlichen Stellungnahme warf Anna A. Assange vor, ein „schiefes Frauenbild“ zu haben und „Probleme damit, ein Nein zu akzeptieren“.

Das, was zwischen Assange und den beiden Frauen geschehen sein soll, ist jedenfalls strafrechtlich offenbar so wenig zwingend einzuordnen, dass die Vorgesetzte der diensthabenden Staatsanwältin bereits am 21. August den Haftbefehl wieder aufhebt. Vier Tage später teilt die Anklagebehörde mit, es werde gegen Assange nur noch wegen Belästigung ermittelt – nicht wegen sexueller Belästigung oder Nötigung, das sind in Schweden spezielle Tatbestände.

Anna A. und Sofia W. sind damit offenbar nicht zufrieden und nehmen sich den prominenten Anwalt Claes Borgström. Er war von 2000 bis 2007 schwedischer Gleichberechtigungs-Ombudsman, ist seither Sprecher der Sozialdemokraten in Gleichstellungsfragen und bezeichnet sich als Feminist. Borgström legt gegen die Aufhebung des Haftbefehls Beschwerde ein. Darüber entscheidet zuständigkeitshalber die Staatsanwältin Marianne Ny. Die Expertin für sexuelle Gewalt und Leiterin eines entsprechenden Dezernats teilt am 1. September mit, sie ermittle wieder wegen Vergewaltigung.

Danach hört man lange nichts mehr. Anfragen werden mit dem Hinweis auf „fortgesetzte Ermittlungen“ abgewiesen. Bis am 18. November auf Antrag von Ny das Amtsgericht Stockholm wegen Vergewaltigung, sexueller Belästigung in drei Fällen und eines Falls von Nötigung einen neuen Haftbefehl erlässt. Dazu sei man gezwungen, sagt Ny, weil Assange sich geweigert habe, zu einem Verhör in Schweden zu erscheinen. Dieses aber sei unerlässlich, um die Ermittlungen zu beenden und um danach zu entscheiden, ob Anklage erhoben werde. Eine Einvernahme außerhalb Schwedens lehnt die Staatsanwältin ab. Zwei Gerichtsinstanzen heißen dieses Vorgehen gut, worauf Schwedens Reichspolizeiführung Interpol bittet, aktiv zu werden.

Auch Assanges schwedischer Anwalt Björn Hurtig kommt ob eines so auffallenden zeitlichen Zusammenhangs mit den aktuellen Wikileaks-Enthüllungen „schon ins Grübeln“. Und mit ihm auch einige schwedische Medien. Politische Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft ist – Stichwort: Weisungsbefugnis – nie von der Hand zu weisen. Und die SchwedInnen sind, was Rechtssicherheit angeht, von ihrer Justiz nicht sonderlich verwöhnt. Das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit beklagen viele JuristInnen schon lange.

Juristische Routine?

Dennoch: Es könnte in Sachen Assange auch ganz einfach seinen normalen – und manchmal eben etwas chaotischen – juristischen Gang gegangen sein. Verschwörungsvorwürfe weisen Staatsanwaltschaft und Reichspolizei von sich. Was hier bislang geschehen sei, sei alles Routine bei Verdacht auf Sexualverbrechen. In Schweden würden solche Delikte eben vielleicht ernster genommen, als in anderen Ländern. Und einen Sonderstatus genieße Julian Assange nicht, betont Staatsanwältin Ny.

Anna A.und Sofia W., die mit ihren Aussagen alles ins Rollen gebracht haben und die nicht einmal dann, wenn sie es wollten, das Verfahren wieder stoppen könnten – es sei denn, sie würden sich selbst bezichtigen, damals die Unwahrheit gesagt zu haben –, äußern sich auf Empfehlung ihres Anwalts gar nicht mehr. REINHARD WOLFF