: Nur ein Punktsieg
LESEN Deutsche Schüler bleiben beim Lesen hängen. Die Politik kann wenig tun, weil Länder blockieren
BERLIN taz | Es geschah am 5. Dezember 2001. In der ersten Pisa-Nacht errangen die deutschen 15-Jährigen im internationalen Vergleich 484 Punkte. Am 6. Dezember wussten alle, was das heißt: Mittelmaß. Nicht mehr Thomas Mann war mehr das Referenzmodell, sondern ein bis dato unbekannter Mitbürger namens „funktionaler Analphabet“. Das ist jemand, der einen Text entziffern, ihn aber nicht verstehen kann.
Drei Pisa-Studien und neun Jahre später sind es 497 Punkte in der Lesefähigkeit. Manche freuen sich, dass es 13 Punkte aufwärtsging seit Pisa 2000. Andere verweisen darauf, dass es seit der letzten Studie im Jahr 2006 nur zwei magere Punkte Zuwachs gegeben hat. Die Dritten sind erschüttert, denn Lesen ist ebenjene Fähigkeit, „die erfolgreiches Lernen ermöglicht“, die Schlüsselqualifikation schlechthin.
So sagt es Annette Schavan (CDU), ihres Zeichens Bundesbildungsministerin, und ihre Analyse zeigt, warum die deutschen 15-Jährigen beim Lesen stagnieren. Schavan hat das Projekt „Lesestart“ ausgelobt. Die Idee ist, jedem Kind bei der Vorsorgeuntersuchung U 6, im Alter von drei Jahren und beim Eintritt in die Schule sogenannte Lesestart-Sets zu geben. Bücher, Broschüren, Tipps, wie man zum Lesen kommt. „Wir erwarten, dass viele Eltern motiviert werden, dazu beizutragen, damit ihre Kinder Freude am Lesen bekommen“, sagt Simone Ehmig von der Stiftung Lesen, die das Projekt 2008 begonnen hat.
Allerdings offenbart das Programm auch die Hilflosigkeit der Politik, mit Leseschwächen umzugehen. Schavan muss den aus Großbritannien stammenden Bookstart zu ihrem Projekt erklären und tief in die Familien hineinregieren, weil der andere wichtige Akteur – ihre Ministerkollegen aus den Bundesländern – mauert. Sie lassen nichts Gemeinsames mehr zu. Die Pisa-Erfolge in Mathematik beruhen zum Teil auf einem sehr erfolgreichen Lernprogramm namens „Sinus“, das Bund und Länder vor über zehn Jahren geneinsam begannen. Ein ähnliches Projekt fürs Lesen war geplant, aber es kam bisher nicht zustande, weil man die Bund-Länder-Kommission, die es machen wollte, abgeschafft hat. Alle, die sich ein bisschen auskennen, fordern dringend ein solches didaktisches Programm. Ob es kommt, steht in den Sternen. CHRISTIAN FÜLLER