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Archiv-Artikel

Der Schallplattenspieler

VON LUTZ DEBUS

Wie der Kapitän eines Ozeanriesen auf seiner Brücke steht er da, die blauen Augen in die Ferne gerichtet. Roger Handt steht aufrecht im Studio des Funkhauses am Kölner Wallraffplatz und liest die Verkehrsnachrichten: Stau zwischen Dortmund-Kley und Bochum-Wattenscheid. Es folgen die angespannte Verkehrslage bei Willich-Schiefbahn, Mörsenbrucher Ei, Haiger Burbach – alles Ortsnamen, die einem nur hier vertraut sind. Besser kennt sich der älteste und dienstälteste Moderator von WDR 2 allerdings mit ganz anderen Namen aus: mit Grateful Dead, Roxy Music, Jefferson Airplane. Roger Handt kennt sie alle, von Abba bis ZZ Top. Gleich nach dem ersten Musiktitel wird er erklären, dass jener Gitarrist, der just seinen 64. Geburtstag feiert, auf der Platte von jenem Sänger, den er gleich spielen wird, im Hintergrund mitgespielt hat. Und das nur, weil der andere Gitarrist kurzfristig... Roger Handt ist ein Rocklexikon auf zwei Beinen.

Seine Kindheit verbrachte der inzwischen 61-Jährige auf Fehmarn. Handt behauptet, dies sei die schönste Ostseeinsel der Welt. Aufgewachsen ist er mit Aalen und Rollmöpsen. Ein Radio gab es auch schon. Aber das spielte damals, Ende der 1950er Jahre, noch keine Musik speziell für Jugendliche. Die ganze Familie versammelte sich vor dem großen Röhrenempfänger, wenn der NDR eine Folge seiner berühmten Krimihörspielserie „Die Jagd nach dem Täter“ ausstrahlte.

So blieb dem Jungen nur der Gang ins Café Börkel, in der Innenstadt der Inselmetropole Burg. Dort stand eine Musikbox, und schon bald kannte Roger alle Titel auswendig, wartete ungeduldig auf die neue Bestückung. 1962 zog die Familie nach Frechen bei Köln. Für den damals 17-Jährigen brach eine Welt zusammen. „Ich hab Rotz und Wasser geheult.“ Schnell aber akklimatisierte sich der junge Mann. Spätestens als er das erste Mal an Karneval durch Köln zog, war er im Rheinland angekommen. Eine Stadt, in der ständig und überall gesungen wurde, begeisterte ihn. Welches Lied ihm von seinen ersten närrischen Tagen im Gedächtnis geblieben sei? Roger Handt verzieht sein Gesicht. Er erinnert sich an ein schrilles Schunkellied der damaligen Zeit: „En d‘r Kaijass Numero Null steiht en steinahl Schull“.

Musikalisch prägte der Karneval Roger Handt nicht nachhaltig. Freitags ging es im kleinstädtischen Frechen in den Elvis-Club. Dort wurden nur Platten aufgelegt. Am Samstag war der Twist-Club angesagt. Da gab es Live-Musik. Man trug die berüchtigten Nyltesthemden. Völlig feuchtigkeitsundurchlässig tauchten sie ihre Benutzer binnen weniger Minuten in Sturzbäche eigenen Schweißes. „Aber sie leuchteten zunächst schön weiß auch in den schummrigsten Ecken“, schwärmt Handt. „Und sie waren bügelfrei.“

Mit Wehmut in der Stimme erinnert sich Roger Handt an die alten Zeiten. „In jeder Kneipe, die nach hinten raus einen Saal hatte, spielte am Wochenende eine Band. So was gibt es heute nicht mehr.“ Viele kopierten damals die Beatles. Aber die waren dem Jungen aus Frechen nicht revolutionär genug. Kann denn Musik überhaupt revolutionär sein? Die Frage empört Roger Handt fast. „Aber wie! Wenn Elvis nicht gewesen wäre, würden noch heute alle Frank Sinatra hören.“ Die Musik von Elvis Presley habe die Generationen gespalten. Zuvor konnte sich die ganze Familie Sinatra anhören oder eben auf Fehmarn Krimihörspiele. Elvis habe die Jungen gegen die Alten aufgebracht und umgekehrt.

Roger Handt selbst hatte nie Streit mit seinen Eltern wegen der Musik. Anders als die meisten Eltern seiner Generation bezeichnete der Vater den Rock‘n Roll und den Beat nicht als „Negermusik“. Es war womöglich weit schlimmer. Handt spricht plötzlich ganz ernst und sogar etwas traurig: „Er hat sich einfach nicht für meine Musik interessiert.“ Auch die Mutter hat ihn machen lassen. Jungs sind nun mal so, habe sie immer gesagt.

Aber auch in anderer Hinsicht empfindet Roger Handt Musik als revolutionär. Ohne den Rock hätte es 68 so nicht gegeben, ist er überzeugt. Roger Handt selbst war kein Revoluzzer. 1967 war er bei der Bundeswehr. Sein größtes Ziel war es in jenem Jahr, den Wehrdienst schnell und unbeschadet hinter sich zu bringen. Natürlich, als anlässlich des Besuchs des Schah von Persien der Demonstrant Benno Ohnesorg in Berlin erschossen auf der Straße lag, war auch er geschockt. Aber so politisch wie andere in jener Zeit war er nicht. Sein Ding war die Musik. Um als Discjockey arbeiten zu können, brach er sogar sein Ingenieurstudium ab. Jahre später, an Silvester 1972, hatte er ein folgenschweres Erlebnis: Ein Team der BBC suchte in einer Kölner Diskothek nach Jugendlichen, die ihre Meinung zu dem bevorstehenden EWG-Beitritt Großbritanniens kund tun wollten. Roger Handt als DJ war kurz vor Mitternacht der einzig Ansprechbare in der Disko. Und so unterhielten sich die Radioreporter aus Großbritannien in einer Livesendung 30 Minuten mit dem jungen Deutschen, der fließend Englisch sprach.

Es ging dann doch eher um Rockmusik als um Europapolitik. Ein paar Tage später meldete sich der WDR bei Handt. Man war von dem redegewandten und gut informierten Interviewpartner der BBC beeindruckt. Schon im Januar 73 hatte Roger Handt seine erste Sendung bei WDR 2. Seit dieser Zeit ist er einer der Rockspezialisten des Kölner Senders.

Die Zeiten, in denen er für eine ganze Reihe von WDR-Sendungen der Musikredakteur war, sind vorbei. Zwei Mal die Woche, am Montag- und am Samstagabend, geht er mit „Yesterday“ und mit „Classics“ auf Sendung. Bei „Yesterday“ gibt es ab der zweiten Stunde ein Wissensquiz. Kandidaten müssen am Telefon Fragen zu Politik, Sport und natürlich Musik beantworten. Den Vergleich mit „Wer wird Millionär“ weist Handt weit von sich. „Ich mache das seit 1995. Da dachte Günter Jauch noch nicht mal an eine Quizsendung.“

Der Hauptgewinn bei WDR 2 ist eine Eintrittskarte. „Es ist spielerischer für die Kandidaten, nicht so ernst“, wendet er ein. Tatsächlich aber gerät an diesem Abend eine Kandidatin mächtig unter Stress. Wie Jauch versucht Handt ein bisschen Smalltalk vor den Fragen. Außer „Ja“ und „Nein“ sagt die Anruferin zunächst nichts. Handt bleibt hartnäckig. Er erfährt, dass die Rentnerin eine Katze hat. Und ein Saxofon. Weil aber im Mundstück gerade kein Blättchen eingespannt ist, kann die Kandidatin nicht mal schnell was spielen. Und die Katze hat sich eine Pfote gebrochen, die nun geschient ist.

Roger Handt begeistern diese kleinen Geschichten seiner Hörer. Da wird klar, warum er nicht hinter dem Studiomikrofon stehen will, sondern lieber in ein kleines Headset spricht. Bei dem Gespräch mit der Rentnerin tänzelt er, neigt sich vor, wenn er etwas nicht verstanden hat, wiegt hin und her, wenn er nach einer Formulierung sucht. Es scheint so, als wären ihm die Anekdoten, die seine Hörer zum Besten geben, genauso wichtig wie die der Rockstars. Und das macht den Charme seiner Sendungen aus.

Wie lange wird es diese Sendungen mit alter Rockmusik beim WDR wohl noch geben? Roger Handt denkt nicht ans Aufhören. Aber die Veränderungen im Musikgeschäft sind für den bekennenden Rolling-Stones-Fan ein bisschen wie der Untergang des Abendlandes. Video killed the radiostar? Natürlich, so der 61-Jährige, begann die Krise der Rockmusik mit MTV. Musik könne man nun einmal nicht sehen, sondern müsse sie hören. Überhaupt gebe es heutzutage sicher mehr Quantität, dafür aber weniger Qualität als früher. Manches Lied von Freddy Quinn sei geistreicher als die heutigen Songs eines Xavier Naidoo.

Das meiste, das heute auf den Markt kommt, hört Handt nicht mehr. „Ich muss mich nur noch für das interessieren, was mich interessiert“, sagt der Radiomann. Draußen, vor dem Funkhaus, fahren aufgemotzte Kleinwagen durch die Herbstnacht. Aus den Autos dringt HipHop-Gewumme. Drinnen, im Funkhaus, geht gerade eine Sendung zu Ende. Ihr Titel: „Yesterday“.