„Pause, mit der man umgehen muss“

An Kindheitsgeschichten erinnerten sie sich alle: Die Tänzerin und Choreographin Ursina Tossi hat Menschen über den Regen befragt und ihre Antworten in Musik und Tanz umgesetzt. Das Resultat, eine „Tanzreportage“, ist morgen Abend in Hamburg zu sehen

INTERVIEW: PETRA SCHELLEN

taz: Frau Tossi, warum zelebrieren Sie den Regen? Der ist doch eher störend.

Ursina Tossi: Erwachsen ist das Interesse aus einer sehr persönlichen Situation: Als ich nach 13 Jahren noch einmal schwanger wurde, bedeutete das für mich eine Auszeit. Das hat mich – eine Süddeutsche im verregneten Hamburg – auf den Gedanken gebracht, mich mit dem Regen zu befassen, der ja auch eine Art Auszeit bedeutet. Eine Inkubationszeit für Kreativität. Zugleich ist es ein allgemeines und atmosphärisches Thema, das sich gut für eine Reportage eignet.

Ist Regen für Sie selbst positiv oder negativ besetzt?

Sehr positiv. Weil er eine Pause bedeutet, mit der man umgehen muss. Man wird unterbrochen in seinem alltäglichen Tun.

Aber man muss ja nicht unbedingt fliehen vor dem Regen.

Nicht zwangsläufig. Man kann natürlich auch genießen, durch den Regen zu gehen. Es gibt ja auch den milden Sommerregen.

Wie ist Ihre „Regenreportage“ konkret aufgebaut?

Ich habe versucht, die Atmosphäre des Regens einzufangen. Hierfür habe ich zunächst Interviews mit Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen geführt. Ich habe Tänzer und Nichttänzer befragt und aus den Ergebnissen eine Toncollage erstellt. Dann haben ich mit den Tänzern gemeinsam versucht, das Thema in Bewegung umzusetzen. Herausgekommen ist eine recht abstrakt und nicht immer direkt zugängliche Form von Sprache in Bewegung.

Was kam bei den Interviews heraus? Gab es einen Trend?

Ja, den Blick in die Vergangenheit. Als Erwachsene wissen die meisten mit dem Regen nichts anzufangen. Dafür haben sie uns sehr viele Kindheitsgeschichten erzählt. Immer wieder ähnliche übrigens – egal, aus welchem Erdteil die Betreffenden stammten.

Was waren das für Geschichten? Worin lag die Ähnlichkeit?

Den meisten Leuten sind Spiele eingefallen, die sie früher im Regen gespielt haben. Und Kleidung, die sie getragen haben. Was sie empfunden haben.

Also nur positive Kindheitsgeschichten?

Ja, meistens.

Konnten die Leute den Moment orten, von dem an sie den Regen nicht mehr angenehm fanden?

Schwer zu sagen. Ich habe allerdings niemanden gesprochen, der persönlich von einer Überschwemmung betroffen war. Der Taifun spielt aber natürlich in Japan eine große Rolle. Er ist verantwortlich dafür, ob die Ernte gut oder schlecht ist – ähnlich wie in Indien. Und davon hängen oft Existenzen ab.

Wie viele Interviews haben Sie geführt?

Ungefähr 30. Und aus diesen O-Tönen haben wir im Wesentlichen den Soundtrack zusammengeschnitten.

Bestehend aus?

Er verbindet Interviewteile mit Musik von Johnny Lloyd und Steve Reich und von uns selbst komponierten Stücken.

Und die Dramaturgie des Stücks?

Es ist aufgebaut nach dem Prinzip „vor dem Regen“, „während des Regens“ und „nach dem dem Regen“. Da ist zuerst die Ruhe vor dem Sturm. Dann die Steigerung bis zum Gewitter. Es folgt die Reflexion über den Regen. An dieser Stelle taucht zum ersten Mal Sprache im Stück auf.

Hat Ihr Stück einen ökologischen Aspekt? Würden Sie es als politisch bezeichnen?

Ein politisches Tanzstück ist es sicher nicht. Ein agitatorisches auch nicht. Unser Zugang und die thematische Arbeit haben aber durchaus gesellschaftspolitische Aspekte.

Aber was ist an Kindheitsgeschichten politisch?

Natürlich kann man anhand so weniger Interviews keine allgemeine Aussage treffen. Und doch offenbaren solch alltägliche Berichte immer die gesellschaftliche Situation der Betreffenden. Gerade anhand so einfacher Fragen zeigen sich kulturelle Besonderheiten.

Aber Sie sagten doch eben, es gäbe so viele Parallelen? Wo bleiben da die Spezifika?

Das sind Details, die ich schwer in Worte fassen kann. Man muss das sehen. In der „Regenreportage“ versuchen fünf Tänzerpersönlichkeiten, einerseits auf die Interviewten einzugehen und andererseits ihre persönlichen Erfahrungen auszudrücken. Die Tänzer kommen aus Dänemark, Deutschland, Afghanistan und Japan und haben mit Regen sehr verschiedene Erfahrungen gemacht.

Eine Reportage bedeutet ja immer einen Mix aus Stimmung und Fakten. Haben Sie auch Recherchen etwa über die Fallgeschwindigkeit des Regens eingebaut?

Wir haben diese Dinge im Vorfeld recherchiert. In das Stück selbst haben wir sie aber nicht eingebracht.

Widmet sich die „Regenreportage“ auch dem Klang des Regens?

Ja. Es gibt sehr stille Momente, in denen wir uns auf das Geräusch konzentrieren. In denen wir uns von der subjektiven Empfindung zu lösen versuchen. In denen wir den Regen an sich nachempfinden wollen.

Sie haben einmal geschrieben, der Regen sei auch ein Zeichen für Neubeginn. Hat das auch etwas von neuer Schöpfung? Von Wiederauferstehung nach dem Gewitter?

Ja.

Das heißt, Ihr Stück endet nicht nur, sondern ist auch ein Beginn?

So ist es.

„Regen – eine Tanzreportage“: morgen, 20.10 Uhr, Hamburger Sprechwerk