: Eine Mauer um den Donbas
DEBATTE In der Berliner Volksbühne diskutierten der polnische Publizist Adam Michnik und der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch über die aktuelle Lage in der Ukraine und die Verantwortung Europas
ADAM MICHNIK
AUS BERLIN KATHARINA GRANZIN
Als könnte man die Ukraine derzeit überhaupt aus dem Blick verlieren! Unter dem auffordernden Titel „Habt ein Auge auf die Ukraine“ hatten die Freie Volksbühne Berlin und der Suhrkamp Verlag zu einer Podiumsveranstaltung mit zwei bekannten osteuropäischen Intellektuellen eingeladen: mit dem polnischen Publizisten Adam Michnik, Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, und dem Ukrainer Juri Andruchowytsch, der auch hierzulande als Romanautor und Essayist großes Ansehen genießt.
Als „Streitgespräch“ war die Veranstaltung angekündigt, doch dass die Geladenen konträre Positionen vertreten würden, war nicht zu erwarten. Der Moderator Manfred Sapper, seines Zeichens Redakteur der Zeitschrift Osteuropa, wusste seinen Gesprächspartnern stets die richtigen Fragen zu stellen, um sie zu eloquenten Darlegungen ihrer Ansichten zu bewegen. Er vermied es jedoch, nachzuhaken, wenn manche Antworten, vor allem im späteren Verlauf des Abends, dann doch an der Frage vorbeigingen.
Interessant war somit auch, worüber nicht gesprochen wurde. Michnik, dem als unbeteiligtem Beobachter eines Nachbarschaftsstreits quasi automatisch die Rolle des externen Analysten zukam, nahm sich dieser Aufgabe umstandslos an und übte sich auch immer wieder in der Disziplin des historischen Vergleichs.
Das System Janukowitsch sei nicht totalitär gewesen, erklärte er, sondern vor allem korrupt. Neu an den Ereignissen auf dem Maidan sei, dass sich gegen eine staatliche Kleptokratie eine Zivilgesellschaft herausgebildet habe. Das lasse sich durchaus vergleichen mit den Ereignissen auf der Danziger Werft im Jahr 1980. Und während das Regime von Wladimir Putin Angst habe vor dem nun umgehenden „Gespenst des Maidan“, falle man in Russland zurück in alte Muster: „Zu behaupten, dass die Nato Russland bedroht, ist nicht nur eine Lüge, sondern ein Rückfall in sowjetische Propaganda.“
Juri Andruchowytsch erinnerte an die politische Situation in der Ukraine, wie sie vor dem Dezember 2013 war: Janukowitsch, der seit Amtsantritt im Jahr 2010 bei der westlich orientierten Bevölkerung lange Zeit eher wenig Rückhalt gehabt hatte, schien sich bis 2013 geradezu zum Proeuropäer gewandelt zu haben: „Janukowitsch stand an der Spitze der Bewegung gen Europa!“
Der einzige wirklich kritische Punkt sei die Frage gewesen, ob Julia Timoschenko aus dem Gefängnis freikäme. Als Janukowitsch dann, für die meisten völlig überraschend, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterschrieb, sei das in etwa so gewesen, als würde ein Riesenschiff auf voller Fahrt voraus plötzlich eine Vollbremsung machen.
Das war ein interessanter Rückblick auf die einstige innere Verfasstheit der Ukraine, von der an diesem Abend aber im Weiteren kaum noch die Rede sein sollte. Auch auf diesem Podium wurde mehr über Putin und Europa gesprochen als über den desolaten politischen Zustand der Ukraine selbst. Michnik sagte, Europa müsse „eine richtige Diagnose stellen“ und „eine Sprache finden“, mit der man Putin etwas entgegensetzen könne. Militärische Gewalt sei keine Option und wäre es auch in der Krimkrise nicht gewesen: „Es war vernünftig, die Krim aufzugeben.“ Worin aber diese wirkungsmächtige Sprache bestehen könnte, blieb offen.
Später kam Michnik von anderer Seite auf dasselbe Thema zurück und erklärte, auf keinen Fall dürfe man Putin gegenüber Appeasementpolitik betreiben, wie man es Hitler gegenüber getan habe. Überhaupt schaffte er es, mindestens achtmal Hitler zu erwähnen, fünfmal davon in einem Satz mit Putin. Ob das schon in Richtung jener korrekten Diagnose gehen sollte, war zumindest fragwürdig.
Andruchowytsch wiederum, der die abwartende Haltung der EU-Politiker gegenüber der Ukraine schon in früheren Jahren kritisiert hatte, baute auf jenem Vorwurf auf: Hätte man der Ukraine nach der Revolution in Orange eine europäische Perspektive gegeben, wäre es nicht zum System Janukowitsch gekommen.
Ausnahmsweise hakte Michnik hier ein und widersprach: Der politische Rückfall in der Ukraine sei keine Folge der unklaren Haltung der EU gewesen, sondern das Ergebnis einer tiefen Krise der ukrainischen politischen Elite.
An dieser Stelle hätte man sich eine Vertiefung der Diskussion gewünscht. Was will die derzeitige politische Elite? Wie kann die innere Spaltung des Landes überwunden werden? Warum ist die russische Propaganda bei Teilen der Bevölkerung so erfolgreich? Der Moderator sprach diesen Punkt sogar an. Eine direkte Antwort bekam er nicht.
Juri Andruchowytsch schien, zunächst jedenfalls, dieselbe Methode zu verfolgen wie manch andere westlich orientierte Intellektuelle seines Landes auch: Je weniger man über diese dunklen Aspekte spricht, desto besser. Seiner Überzeugung nach werde es bald weder Ost- noch Westukraine mehr geben, da die Putin’sche Aggression das Land geeint haben werde. Es gebe künftig nur noch die Ukraine und den Donbas. Um diesen solle man am besten eine fünf Meter hohe und zwei Meter dicke Mauer ziehen.
Das mochte scherzhaft gemeint gewesen sein, war aber dennoch ziemlich schockierend aus dem Munde eines der angesehensten Intellektuellen seines Landes. Und für die Zukunft des gesellschaftlichen Dialogs in der Ukraine eher ein schlechtes Zeichen.