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Archiv-Artikel

Chronik eines vermeidbaren Todes

von THOMAS BECKER

Justin wurde nur sieben Monate alt. Heute vor einem Jahr starb der Junge in einer Wohnung in Bochum einen gewaltsamen Tod. Justins Mutter (22) und ihr Lebensgefährte (29) müssen sich deshalb seit August in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen Mordes verantworten. Der Stiefvater soll das Kind aus Ärger über dessen Schreien beim Baden mit 60 Grad heißem Wasser „abgeduscht“ haben. Justin erlitt schwerste, lebensbedrohliche Verbrühungen. Die Angeklagten riefen keinen Arzt. 14 Stunden lang zogen sich die Todesqualen des Jungen hin.

Über die Schuld der beiden Angeklagten wird das Bochumer Schwurgericht urteilen. Doch seit im Prozess immer mehr Details zur Vorgeschichte von Justins Martyrium bekannt geworden sind, ist sein Tod auch zum Streitgegenstand im Bochumer Rathaus geworden. Denn das Leiden des Jungen hätte verhindert werden können. Die Familie war schon lange vorher im Jugendamt bekannt, es gab den dringenden Verdacht, dass der Säugling schwer misshandelt wurde. Dennoch wurde die Familie nicht ausreichend kontrolliert und betreut.

Fast ein Jahr lang hat die Stadt Bochum zum Fall Justin geschwiegen. Inzwischen hat Sozialdezernentin Sophie Graebsch- Wagener zögernd Fehler eingeräumt, nicht zuletzt unter dem Druck der Staatsanwaltschaft. Denn die Behörde ermittelt bereits gegen „Bedienstete des Jugendamtes“ wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung. Heute will Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz (SPD) im Bochumer Stadtrat eine Erklärung abgeben. Sie will antworten auf bohrende Fragen der Opposition. Es geht um die Verantwortung des Jugendamts und darum, ob die Sozialdezernentin den Rat und die Öffentlichkeit im Fall Justin wahrheitsgemäß informiert hat. Manche dieser Fragen hat der Prozess schon beantwortet. Aus Zeugenaussagen und Akten ergibt sich eine Chronik des Versagens.

30. Mai 2005

Justins Mutter und ihr Freund gehen mit dem sieben Wochen alten Säugling zum Arzt. Das Kind hat einen geschwollenen, unnatürlich abgewinkelten Oberschenkel. Es wird in einer Kinderklinik in Herne aufgenommen. Die Diagnose zeigt einen Bruch des Oberschenkels. Zwei Wochen lang wird das Bein mit einem 500 Gramm schweren Gewicht gerade gezogen. Danach bekommt Justin einen Gips. Seine Mutter erzählt, der Kleine habe sich das Bein in den Gitterstäben seines Bettchens eingeklemmt. Der Stationsärztin kommt das „sehr unwahrscheinlich vor“, so sagt sie vor Gericht. Eine glaubhafte Erklärung liefern die Eltern nicht. Die Ärztin spricht die Mutter auf eine mögliche Misshandlung an. Die verneint das. Im Prozess erläutert ein Gerichtsmediziner später, dass es „völlig unmöglich“ ist, dass ein sieben Wochen alter Säugling sich selbst ein Bein bricht. Im Krankenhaus fällt auf, dass die Mutter kaum zu Besuch kommt, laut Erinnerung der Ärztin nur einmal pro Woche. Trotz mehrfacher Angebote lehnt sie es ab, ein Zimmer im Krankenhaus zu beziehen. Sie kümmert sich kaum um Justin. Auf der Station herrscht darüber großes Unverständnis.

20. Juni 2005

Die Stationsärztin ruft im Bochumer Jugendamt an. Sie schildert der zuständigen Sozialarbeiterin ihren Eindruck von der Familie und bittet darum, die häusliche Situation zu überprüfen. Ausdrücklich, so sagt sie im Prozess, habe sie den Verdacht auf Kindesmisshandlung erwähnt. Die Sozialarbeiterin bestreitet das später vor Gericht.

21. Juni 2005

Wegen der Hinweise auf Misshandlung wird Justin am ganzen Körper geröntgt. Der Befund: Beide Oberarme sind schon einmal gebrochen gewesen. Hinweise auf alte Brüche, die allerdings „nicht hundertprozentig sicher sind“, finden sich außerdem an beiden Schienbeinen und am gesunden Oberschenkel. Die Ärzte hegen den dringenden Verdacht auf Kindesmisshandlung. Die eigentlich geplante Entlassung des Kindes wird verschoben.

22. Juni 2005:

Die Ärztin wendet sich erneut ans Jugendamt. Am Telefon wird sie mehrfach weitervermittelt. Sie ist sich nicht völlig sicher, mit wem sie letztendlich gesprochen hat. Als Zeugin sagt sie vor Gericht, sie habe ihrer Gesprächspartnerin von den älteren Frakturen berichtet und gefragt, wie es weiter gehen soll. Im Bochumer Jugendamt existiert kein Vermerk über dieses Gespräch.

23. Juni 2005

Der Bruder von Justins Mutter ruft im Jugendamt an. Er mache sich Sorgen um das Kind, sagt er, er glaubt, dass seine Schwester nicht in der Lage sei, sich ausreichend um Justin zu kümmern. Seine andere Schwester hatte bereits ein Kind freiwillig in eine Pflegefamilie gegeben, da sie sich überfordert fühlte. Seitdem ist die Familie im Jugendamt bekannt.

27. Juni 2005

Erneut ruft die Ärztin bei der zuständigen Sozialarbeiterin an. Es sei darüber gesprochen worden, so sagt sie vor Gericht, ob Justin aus der Familie heraus müsse. Sie habe aber empfohlen, das Kind bei der Mutter zu lassen. Die sei nämlich entsetzt gewesen, als sie hörte, sie könne ihr Kind verlieren, habe sofort einer Betreuung durch das Amt zugestimmt und versprochen, alles für Justin zu tun. Allerdings, so die Ärztin: „Ich hatte um eine engmaschige Betreuung und Hilfestellung gebeten. Ich hatte mir vorgestellt, dass, wenn möglich, dreimal die Woche oder auch täglich jemand in die Familie geht.“ Die Sozialarbeiterin bestreitet, dass das Gespräch diesen Inhalt hatte. Die Ärztin habe lediglich mitgeteilt, „dass nicht mehr ausgeschlossen werden könnte, dass Justin misshandelt wurde“.

Die Bochumer Sozialdezernentin Sophie Graebsch-Wagener geht noch weiter. In einer Pressekonferenz am 25. Oktober 2006 versichert sie, der Verdacht auf vorsätzliche Misshandlung des Kindes sei während Justins Behandlung in der Kinderklinik mit keinem Wort erwähnt worden. Ausdrücklich kritisiert sie das Krankenhaus deshalb. In einer schriftlichen Erklärung ist die Rede von einer „Fehleinschätzung durch mangelnde Information der Klinik“.

28. Juni 2005

Justin wird nach Hause entlassen.

29. Juni 2005

Die Sozialarbeiterin besucht die Familie. Die Informationen, deren Fehlen die Sozialdezernentin bis heute beklagt, liegen ihr zu diesem Zeitpunkt offenbar doch vor. Denn laut ihrer Aussage bespricht sie „den Verdacht, dass er das Kind misshandelt hat“, sie geht von „mehreren Beinbrüchen“ aus. Die Eltern bestreiten die Vorwürfe und erzählen ihre Geschichte vom Gitterbett. Dass ein sieben Wochen altes Baby sich nicht selbst in den Gitterstäben verfangen kann, weiß die Sozialarbeiterin nach ihrer Aussage nicht, das habe ihr die Ärztin auch nicht gesagt. Insgesamt hat sie den Eindruck, dass die Leute kooperativ sind. Wegen einer Betreuung fragt sie bei einer Einrichtung der Sozialpädagogischen Familienhilfe an. „Die hatte keine Kapazitäten frei.“ Mit ihren Kolleginnen bespricht sie daraufhin, dass dann der Einsatz einer Kinderkrankenschwester ausreiche. Die soll einmal pro Woche überprüfen, ob das Kind adäquat versorgt wird. Immerhin hat der Säugling zu dieser Zeit noch ein Bein in Gips.

Anfang Juli beginnt die Krankenschwester mit ihren Besuchen. Sie hat einen guten Eindruck vom Kind und von der Familie, sagt sie vor Gericht. Die Mutter sei liebevoll mit Justin umgegangen. Schon nach dem zweiten Besuch kommt es jedoch zu Unregelmäßigkeiten: Einmal macht niemand die Türe auf, was für die Familie keinerlei Konsequenzen hat, beim nächsten Mal ist die Krankenschwester krank. Die Sozialarbeiterin erfährt davon nichts.

18. Juli 2005

Im Bochumer Jugendamt geht der schriftliche Bericht des Krankenhauses ein. Schwarz auf Weiß wird in dem zweiseitigen Schreiben „der dringende Verdacht auf Kindesmisshandlung“ benannt. Eine Reaktion erfolgt darauf nicht. Die Sozialarbeiterin erinnert sich vor Gericht, der Bericht sei für sie „nicht so bedeutend“ gewesen. Schließlich sei seit Justins Entlassung ja schon Zeit verstrichen gewesen und die Krankenschwester habe bereits „positiv rückgemeldet“.

Ob noch jemand anderes im Amt diesen Bericht gesehen und gelesen hat, ist bis heute unklar. Eigentlich, so versichert Jugendamtsleiter Dolf Mehring, gebe es in seiner Behörde keine einsamen Entscheidungen. Wenn es um die Gefährdung von Kindern gehe, gehöre zum „Standardverfahren“ auch die „kollegiale Reflexion“. Warum die diesmal ausfiel, und damit auch die fällige „Neubewertung“ des Falls, das weiß er nicht. Personalmangel gebe es im Bochumer Jugendamt jedenfalls nicht. 16 Monate nach Eingang des Schreibens bei der Stadt weisen Jugendamtsleiter und Sozialdezernentin darauf hin, „dass das interne Prüfungsverfahren zur Zeit nicht abgeschlossen ist“. Eine Betreuung der Familie durch fachkundige Sozialarbeiter/innen findet zu keiner Zeit statt. Bis November wird sie lediglich von einer Kinderkrankenschwester besucht.

17. November 2005

Justin kommt in der Familie ums Leben.