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Archiv-Artikel

Das Primat des Eigenen

„Behalten Sie Ihr krankes Inneres für sich“: Heute beginnt in Bremen das Festival für zeitgenössische Musik. Komponist Christoph Ogiermann erklärt, warum er sein Publikum gern überfordert

INTERVIEW HENNING BLEYL

taz: Herr Ogiermann, seit wann sagen Sie zu sich selbst: Ich bin Komponist?

Christoph Ogiermann: Seit vor sechs Jahren im Bremer Dom mein Stück „Draußen ist feindlich“ aufgeführt wurde. Da hatte ich das Gefühl, ich habe eine eigene Sprache entwickelt.

Wie klingt die?

Sehr hektisch, Vieles ertönt gleichzeitig. Das Domstück ist für Orgel, drei Blockflöten und Tonband und wird beständig lauter. Die eigenen Vorlieben kommen eben immer wieder durch und dann klingt das wie der hampelige Ogiermann.

Wie steht’s mit langsam und leise?

Das hab’ ich auch schon gemacht, aber dann kriege ich so eine Art horror vacui. Wenn ich in meiner Partitur sehe, da hat einer der Musiker gerade nichts zu tun, dann muss der sozusagen noch ein Dia starten.

Warum?

Ich habe große Lust an dieser starken Überforderung. In der Regel fühlen sich die Leute von meiner Musik überfahren, das wird mir immer als bewusste Provokation ausgelegt und dann heißt es: „Dieses kranke Innere können Sie mal für sich behalten.“ Dabei ist „Provokation“ für mich gar keine Kategorie.

Immerhin zeigen solche Reaktionen, dass Ihre Musik nicht im luft- beziehungsweise menschenleeren Raum stattfindet.

Ich gehe mit meiner Musik gern in Kirchen. Manchmal sitzen da Leute mit glasigen Augen, einer hat mal gesagt: „Ich mag Ihre Musik nicht, aber ich fühle mich als Hörer ernst genommen.“

Das von Ihnen mitorganisierte 14. Festival der Bremer Projektgruppe für Neue Musik hat den Titel „was JETZT“ – das klingt ein bisschen ratlos.

Das erste Festival hieß „jetzt – das Streichquartett“. Da wurde die gesamte Moderne/Postmoderne-Diskussion anhand einer Gattung geführt, eben des Streichquartetts. Es gab immer den Anspruch, nicht nur innermusikalische, sondern auch gesellschaftliche Aspekte zu beleuchten, zum Beispiel „Total Recall“ zum Thema Digitalisierung, „Todesmetaphern“ oder „Das Eigene und das Fremde“. Diesmal erlauben wir uns, ganz privat zu entscheiden, was macht uns an, was betrifft uns wirklich. Ich denke, mangels allgemeingültiger Kriterien geht das heute auch gar nicht anders. Das einzige alte Stück ist Jani Christous „Anaparastasis III The Pianist“ von 1968. Ich mag es sehr gern, weil es unglaublich schroff ist.

Wenn man sich die im Tagungsreader abgedruckten Partituren anschaut, fällt auf: Es wird wieder „richtig“ komponiert. Ist das nicht geradezu neo-konservativ?

Es gibt in der Tat einen Rückzug auf’s Handwerk, und ich bin extrem gespannt, wie wir uns das selbst erklären. Auf jeden Fall erhoffen wir uns einen für das Publikum nachvollziehbaren, lustvollen Austausch zwischen den KomponistInnen.

Von Ihnen selbst wird „In der Gnade der Strafe sein“ aufgeführt.

Technisch gesprochen geht es dabei um die Auslotung der Extreme: Wann ist es zu laut, zu leise, zu privat? Das Stück geht so nah ran wie möglich, etwa wenn mein nackter Körper auf Spiegel knallt. Ich muss das so machen, weil ich nicht an an mir selber vorbeikomme. Es nervt mich total, wenn sich Komponisten hinter ihren Produkten verstecken: wenn sie irgendetwas aufschreiben und das dann Leuten zum Spielen geben. Das ist mir zu wenig.

Demnach macht es keinen Sinn, Ihre Werke zu drucken?

So ist es. Verlage haben ihre frühere Bedeutung ohnehin beinahe komplett eingebüßt. Das hat auch mit der technischen Entwicklung zu tun: Wenn man nicht große Apparate wie Sinfonieorchester oder Opernproduktionen mit Noten versorgen muss, kann man seine Sachen sehr gut mittels der eigenen Website oder auf CDs vertreiben.

Gedruckt zu werden bedeutet Anerkennung.

Bei graphischer Notation kann das Drucken aber auch zu einem echten Problem werden. Was das Copyright angeht: Rechte auf elektronische Musik erheben zu wollen, ist so anachronistisch wie Feudalismus.

Können Sie vom Komponieren leben?

Ich kann vom Musik machen leben. Als Geiger trete ich auch mit ganz alter Musik auf.

Auffallend viele zeitgenössische MusikerInnen beschäftigen sich parallel mit richtig alter Musik. Wie kommt’s?

Gerade für Komponisten ist spannend, dass es schon immer Musik gab, die den jeweiligen Zeitgenossen so fremd war, dass sie schnell wieder in den Archiven verschwand. Zwischen 1380 und 1420 etwa gab es eine große Blüte des spekulativen Umgangs mit Musik, mit unglaublichem polyrhythmischem Zeugs, mit der Erfindung farbiger Notation und so weiter. Das ist vergleichbar mit der kurzen Blüte der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg.

Ist die schon verdorrt?

Natürlich entsteht hier und da noch etwas. Aber es gibt immer weniger Radio-Mitschnitte, und die Partituren fliegen flächendeckend aus den Bibliotheken raus, weil es dort nur noch nach der Ausleihquote geht.

Was heißt das für Ihre Auftragslage?

Ich hatte gerade ein Projekt an der Semperoper, danach gab’s den Vorschlag, meine Musik zum feierlichen Abschluss des Informatikjahrs in Berlin zu spielen. Aber daraus wurde nichts: Die Emissärinnen des Wissenschaftsministeriums stöckelten während der Aufführung lautstark hinaus.

Sie wussten: ein Auftrag weniger.

Ja, das war eine absolute Ablehnung. Stattdessen wird jetzt ein Stück von Philipp Glass gespielt [berühmt sowohl für seine Wiederholungen als auch für die Verkaufserfolge seiner CDs, d. Red.]. Das gibt also c-moll, f-moll, c-moll und so weiter.

Und was machen Sie?

Meine Lieblingsbeschäftigung sind derzeit elektronische Fünfminutenstücke. 17 habe ich schon gemacht, die kann man in Gestalt eckiger CDs aus einem umgebauten Zigarettenautomat ziehen. Außerdem unterrichte ich in einer zwölften Klasse Komposition. Die Schüler fanden das erst total komisch, aber in dem Moment, da du mit deiner Person dafür einstehst, funktioniert es. Meine Erfahrung ist, dass sie extrem nach einem eigenen Ausdruck suchen. Mir geht es ja auch so: Ich bin ein fanatischer Hörer meiner eigenen Stücke.

Im Popbereich gibt es ebenfalls viele Elektro-Bastler. Haben Sie da Berührungspunkte?

Unterhalb der offiziellen Oberfläche Donaueschingen [das weltweit älteste und traditionsreichste Festival für Neue Musik, d. Red.] sind die Grenzen längst fließend geworden. Gerade von den „Noise“-Leuten habe ich irre viel gelernt. Manchmal kommen natürlich die Kriterien meiner akademischen Ausbildung durch und ich finde Sachen zu simpel.

Apropos Ausbildung: Kinder entwickeln ihre Berufswünsche nach Vorbildern. Gibt es in Bad Pyrmont, wo Sie herkommen, Komponisten?

Bei einem hatte ich sogar Unterricht, der komponierte Märsche. Allerdings war er ganz verbittert, weil das Kurorchester sie nicht spielen wollte. Dafür hat er mir Geige beigebracht, in dem er vor mir auf dem Stuhl saß und immer schrie: „Sauber spielen, sauber spielen!“ In meiner Familie macht keiner Musik, wir kannten es nicht besser.

Wie wird man dann Komponist?

Eine meiner großen Initiationen hatte ich durch den Geiger Malcolm Goldstein. Als ich den erlebte, stand mir der Mund offen, und ich war sicher, dass ich genau das auch machen will – obwohl ich vorher gar nicht gewusst hatte, dass es das gibt.