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Archiv-Artikel

Eine Prärie als Readymade

TEMPELHOFER FELD Aufbruchsignal in die Zukunft: Das Feld kann eine Einübung in einen revolutionierten Umgang mit städtischen Räumen sein, wie ihn das 21. Jahrhundert vielleicht entwickeln wird. Ein Plädoyer

Der Volksentscheid

■ Am 25. Mai stimmen die BerlinerInnen darüber ab, ob das Tempelhofer Feld bebaut werden soll. Der Senat will an drei Rändern des ehemaligen Flugfelds rund 4.700 Wohnungen, außerdem Gewerbegebäude errichten. Die Initiative 100 Prozent Tempelhofer Feld will die Bebauung des rund 385 Hektar großen Areals dagegen komplett verhindern.

■ Damit die Initiative erfolgreich ist, müssten beim Volksentscheid die Mehrheit der TeilnehmerInnen und zugleich mindestens ein Viertel aller Berliner Wahlberechtigten für den Gesetzentwurf der Volksinitiative stimmen. Zudem müssten weniger Menschen für den Konkurrenzentwurf des Senats, der ebenfalls zur Abstimmung steht, votieren. Am 25. Mai sind zudem Europawahlen. (taz)

VON CHRISTOF FORDERER

Für das Interesse, das das Tempelhofer Feld mit seiner immensen Leere bei so vielen auslöst, gibt es naheliegende Gründe. Aber vielleicht schwingen bei der Faszination auch einige aus der Stadt- und Landesgeschichte aufsteigende unbewusste Motive mit: Motive, die so etwas wie eine tiefenanalytische Hermeneutik der Stadterfahrung zum Sprechen bringen kann.

Lassen wir uns dazu einen Moment lang auf das Spiel ein, Berlin als Stadtwesen mit Bewusstsein vorzustellen. Unter dieser Perspektive könnte das ehemalige Flughafengelände als ein von der Stadt geträumtes Bild erscheinen, das eines der großen Kriegsverbrechen, die in dieser Stadt angezettelt wurden, durch einen harmlosen Epilog zu ergänzen versucht. Das Berlin-Unbewusste, so der Deutungsvorschlag, erträumt sich in Gestalt der von einer Prärie überwucherten Freifläche eine dieser osteuropäischen Steppenlandschaften, wie sie Hitlers Armeen einst als „Lebensraum im Osten“ unterwerfen sollten. Aber diese Ostlandschaft ist nun kein brutal anzueignendes Beuteziel mehr, sondern erstreckt sich – ein wenig unbeholfen und fremd, ein wenig wie ein Readymade, vor dem man stutzt – als weitflächige Prärie mitten im eigenen Stadtraum.

Mit dem Tempelhofer Feld in seiner gegenwärtigen Gestalt, so kann es scheinen, hat der fatale „Drang nach dem Osten“, der schon im 13. Jahrhundert sein Unwesen getrieben hatte und in dem die Kolonistendoppelsiedlung Berlin/Cölln ihren Ursprung hat, definitiv aufgehört, ein aggressiver geopolitischer Handlungsimpuls zu sein: Er hat sich zu einem grünen Flecken auf der Haut der deutschen Hauptstadt somatisiert.

Man kann solche frei fantasierende Stadtraumhermeneutik noch weitertreiben. Das Tempelhofer Feld lässt sich nicht nur als beruhigendes Zeichen dafür, dass die bösen Geister, die einst von Berlin ausgehend Europa verwüstet haben, gebannt sind, sondern auch als Aufbruchsignal in die Zukunft lesen. Wer zu geschichtsteleologischen Spekulationen neigt, könnte versucht sein zu philosophieren: Die berühmten „voids of Berlin“, die seit 1945 den Berliner Stadtraum in der Schwebe halten, haben auf dem Tempelhofer Feld ihre Bestimmung erreicht. Die Leere ist hier aus einer vergangenheitszugewandten Spur der Katastrophen, die das Tilgungswerk von Krieg und Abbruch-Urbanismus in das Stadtgewebe hineingerissen haben, in einen Ausblick auf eine neue Form von Stadt umgeschlagen: auf eine Metropole, die einen Schritt hin zu dem gemacht haben wird, was vor über 200 Jahren Friedrich Hölderlin für die damaligen Kleinstädte erwartet hatte, wenn er sie als „hell und offen und reineren Feuers voll“ ersehnte.

Was es mit dieser Helle und Offenheit genauer auf sich hat, soll sogleich skizziert werden. Zunächst eine Anmerkung zu jener Bürgerinitiative, die die Tempelhofer Leere zu ihrem Anliegen macht. Auch sie kann wie der Stadtraum selbst als Resonanz von Motiven der Landesgeschichte gelesen werden. Die kompromisslose Zurückweisung urbanistischer, architektonischer oder landschaftsgärtnerischer Gestaltungen des Geländes, wie sie die Initiative als Gesetz festgeschrieben wissen will, ist sicherlich in konkreten aktuellen Erwartungen begründet.

Urbanisten verbannt

Man kann gleichwohl ergänzend bemerken, dass der puristische Unmittelbarkeitswunsch, der zu Beginn der Neuzeit die protestantische Revolte gegen den Katholizismus geleitet hatte, in ihr ein neues Ziel gefunden hat. So wie damals die märkischen Christen keine Priester mehr wollten, die ihnen das Heilige abgepackt in Sakramenten und Madonnenbildern darreichen, so will ein Teil der heutigen Berliner keine Urbanisten mehr, die ihnen den unverhofft in der Stadt aufgebrochenen freien Raum mit Stadtprunk einkleiden. Künstliche Seen, Blumenbeete und ästhetisch gestaltete Pfade sind für sie, könnte man analogisieren, falsche Reliquien und Monstranzen, die mit ihrem albernen Glanz das wahre Empfinden von Natur verhindern.

Doch nun zu der Frage, welchem Aufbruch und welcher künftigen Form von Metropole in der immensen Tempelhofer Leere gewissermaßen ein breites Tor geöffnet ist. Das Tempelhofer Feld, so scheint es, ist eine Einübung in einen revolutionierten Raumumgang, wie ihn das 21. Jahrhundert vielleicht entwickeln wird. Das Kennzeichnende dieses neuen Raumumgangs erschließt sich, wenn man über die Frage nachdenkt, ob der ehemalige Flughafen ein Park ist. Man wird schnell darauf stoßen, dass er in einem entscheidendem Aspekt das Gegenteil von einem Park – oder jedenfalls eine ganz neue Form von Park – ist. Die bisherigen Parks (der Renaissance-Park, der französische Park, der englische Park …) spiegeln, oft unter Vorgabe des Gegenteils, einen Willen zur Macht. Sie sind Ausdruck dessen, dass bislang noch jede Gesellschaft die Welt für das Eigentum des Menschen gehalten hat. Das Tempelhofer Feld macht dieses Machtspiel nicht mit: Das Grün bleibt sich selbst überlassen und wird auch nicht durch architektonische Einfassung indirekt urbanisiert. Die Natur wird nicht zum Substrat einer Apotheose ihres Gegenteils, der Zivilisation. Die Tempelhofer Leere, so kann man ihre, die gegenwärtige Zivilisation infrage stellende Bedeutung resümieren, ist die Freiheitsaura, die ein Ort ausstrahlt, von dem die Schwere des sich die Welt aneignenden Menschen gewichen ist.

Berlin als ein Lebewesen

Kehren wir noch einmal zu der Imagination zurück, Berlin sei ein Lebewesen, das mit seinen Stadträumen sich Wunschträume realisiert. Vielleicht hat das Unbewusste Berlins sich mit dem Tempelhofer Feld in seinen Stadtraum nicht nur einen friedlichen Epilog zu dem fatalen „Lebensraum im Osten“ hineingeträumt: Vielleicht ist das Tempelhofer Feld auch ein sanfter Wiedergänger des untergegangenen Ostberlin. Es kann als leise Resonanz des Ostberlins von vor 1989 aufgefasst werden, weil Berlin mit den mehr als 300 Hektar dieses Territoriums erneut auf seinem Boden ein weitflächiges Terrain absteckt, das dem Kapitalismus und dessen Aneignungsgier sich entzogen ist.

Sollte das „Schutzgesetz“ durchkommen, wird Berlin mit dem Tempelhofer Feld auf Dauer eine Heterotopie enthalten. Aber während der real existierende Nichtkapitalismus, wie er in Ostberlin verwirklicht war, die provinzielle Enge eines eingeriegelten Lebens bedeutete, wird der real existierende Tempelhofer Ausstieg aus dem kapitalistischen Verwertungssystem die deutsche Hauptstadt auf den Status einer – in einer neuen Bedeutung des Wortes – „Welt-Stadt“ heben: Dank der „offenen“ und „hellen“ Leere, die der Tempelhofer Park ist, ragt ein Stück authentischer, von keiner Aneignung „anthropisierter“ Welt in den Berliner Stadtraum hinein. Das Tempelhofer Feld ist die Agora, in der die Welt als gemeinsames Anliegen aller Bürger und als prinzipiell unaneigbare Realität mit der Stadtgesellschaft kommuniziert.

■ Christof Forderer ist Kulturwissenschaftler in Paris