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Archiv-Artikel

DIE EINE FRAGE Der Mehrheits-Grüne

Warum ist Winfried Kretschmann überall hoch angesehen – außer bei den Bundesgrünen?

Bei einem zünftigen Biofleischessen im grünen Milieu sprach ich mit einem baden-württembergischen Exspitzensozi über den langen Marsch der Grünen an die Spitze der Landesregierung. Er erzählte, wie er in den Neunzigern Kontakte zu den Grünen aufbaute, zu Leuten wie Kuhn, Schlauch, Bender. „Was ist mit Kretschmann?“, fragte ich. Ach, sagte er. Um den habe sich keiner bemüht. Niemand habe gedacht, dass der mal wichtig werden könnte.

Tja. Wo, wenn nicht in der Politik, können Wunder geschehen? In dieser Woche vor drei Jahren ist Winfried Kretschmann Ministerpräsident von Baden-Württemberg geworden. Der erste in der Geschichte der Bundesrepublik, der von den Grünen kommt. Damit endete eine 58 Jahre dauernde CDU-Oligarchie.

Dass nun heute nicht alle glücklich sind, wird einen Realisten nicht wirklich wundern. Die Koalition der sich fremden Parteien Grüne und SPD ist erwartet komplex, die Reform der Schulpolitik (Gemeinschaftsschule, Bildungsplan) erwartet hitzig, der Ausbau der Windenergie schwieriger als befürchtet, die Schuldenbremse bremst, der Volksentscheid pro Stuttgart 21 ist für viele Verlierer nicht akzeptabel. Insgesamt passiere viel zu wenig, wird kritisiert, Kretschmann selbst agiere zu präsidial, man spürte allenfalls einen „Hauch der Veränderung“ (SZ).

Interessant ist die Zustimmung für den Ministerpräsidenten. Den Vize-MP Nils Schmid (SPD) oder den CDU-Landeschef Strobl kennen viele gar nicht. Kretschmann kennen alle und bei zwei Dritteln steht er derzeit in hohem Ansehen. Auch bei solchen, die sich sonst der CDU zuordnen.

Das liegt daran, dass Kretschmann eine singuläre Mischung aus Intellektualität, Provinzialität und Anstand verkörpert. Dass er nicht wie die Axt im Walde daherkommt. Und vor allem nicht wie die Grünen-Projektion schwäbischer Konservativer, also als rabaukiger Besserwisser oder Heulsuse mit dauererigiertem Moralzeigefinger. Kretschmann spürte immer, dass der Titelsong dieses Wechsels nur „Take it easy“ sein konnte und nicht „Revolution“. Weil er – auch dank seiner K-Gruppen-Zeit – weiß, dass Menschen nur bedingt änderungsbereit sind und trotzdem Empathie brauchen.

„Gnothi seauton!“, wie er den Bundesgrünen nach der krachend verlorenen Bundestagswahl zurief, „nichts im Übermaß“. Die Analyse, dass die Bundespartei es ohne Gespür maßlos übertrieben hatte, war so evident, dass sie in Berlin sofort bockig wurden und sich auf das klassische argumentum ad hominem zurückzogen, man könne über alles reden, aber nicht so wie er. Was ja heißt: Wir wollen gar nicht darüber reden. Da ließ er es gut sein und war am Ende auch noch schuld, dass Schwarz-Grün nicht zustande kam, weil er ja Trittins Rücktritt verfügt habe.

Wir haben es hier mit der Grenze von Kretschmanns Möglichkeiten zu tun, dem moralischen Abgrund dieser Partei – und letztlich mit der alles entscheidenden Frage: Versteht man Grüne, die über die Grünen hinausragen und im Alltag demokratischer Kompromisse gestalten als Role Model oder erklärt man die Mehrheitsfähigen zu schlechteren Grünen und macht sie kleiner?

Kretschmann jedenfalls macht nicht Politik für eine Miniminderheit von 8,4 Prozent, auch nicht für die 24,2 Prozent, die die BaWü-Grünen gewählt haben, sondern für die baden-württembergische und deutsche Gesellschaft (etwa bei der Atomendlagersuche). Und nun will er „five more years“ für Grün-Rot. Schwierig. Aber nicht unmöglich. Man wird sehen, in welche Richtung die Kommunalwahlen am 25. Mai weisen. Es mag ironisch sein, aber gerade das Schneckentempo könnte die zweite Runde bringen, weil es half, die Grünen als führende Regierungspartei rasend schnell zur kulturellen Normalität zu machen. Das Amt kam zum Mann, relevante Teile der Gesellschaft kamen zu den Grünen, die Mehrheit kam zu Kretschmann. Wer daraus nichts ableiten kann oder den Ministerpräsidenten immer noch unterschätzt, muss ein Bundesgrüner sein.

 Peter Unfried ist taz-Chefreporter