: Inflation von Hauptdarstellern
Alemannia Aachen schafft gegen müde Bremer ein 2:2 und erfährt Lob von allen Seiten. Ein Spion des FC Chelsea begibt sich am Tivoli auf eine Zeitreise zu den Wurzeln des britischen Fußballs
AUS AACHEN BERND MÜLLENDER
Spätestens seit Erfindung der Dreipunkteregel gehört es bei einem Unentschieden zu den Reflexen aller Fußballverantwortlichen, den Verlust von zwei Zählern mehr zu beklagen als den Gewinn des einen Trostpunktes. Am Samstag, nach dem mitreißenden 2:2 zwischen Aachen und Bremen, hätten beide genügend Argumente gehabt über verschenkte Punkte zu trauern. Was sie intern sicher auch taten. Nach außen aber zeigten sich alle auf vorweihnachtliche Weise glücklich gestimmt und milde.
Besonders bei der Alemannia, die den mauen Titelaspiranten in den ersten 45 Minuten hätte überrennen können statt nur 1:0 zu führen (Rösler, 33.), überraschte das. Michael Frontzeck erklärte sich trotz „der besten 1. Halbzeit, seit ich hier Trainer bin“ als „außerordentlich zufrieden“. Sein Vorgesetzter, Sportdirektor Jörg Schmadtke, assistierte: „Wir dürfen nicht vergessen, wer sind wir und wer sind die anderen.“ Bei denen lobte Coach Thomas Schaaf, Aachen habe „mit Herz und Seele gespielt“. Das hätte über Werder niemand behauptet. „Wenn man Meister werden will, dann fehlen dir am Ende vielleicht solche Punkte gegen die kleineren Gegner. Wir hätten erst gar nicht zulassen würfen, dass Aachen im Rahmen seiner Möglichkeiten so gut spielt“, sagte Werder-Sportdirektor Klaus Allofs.
Es war ein Spiel mit vielen Hauptdarstellern. Der Titelaspirant, der mit dem Remis die Tabellenführung verschenkte, hatte neben dem typischen Lässigkeits-Virus (Nimm du den Ball, ich hab ihn auch nicht) auch der tatenlose Mithilfe des auffälligen Schiedsrichters Markus Merk bedurft. Merk hatte ein dreistes Foul von Miroslav Klose beim Ausgleich übersehen (79.).
Komisch: Merk, ehemals der weltbeste seiner Zunft, scheint seit seinem WM-Versagen im Spiel Ghana-USA an einem Trauma zu leiden. Schon mehrfach übersah er in dieser Saison Strafraumfouls. Wenn es drauf an kommt, bleibt er stumm. Er ist vielleicht der einzige Referee, der ein Spiel ganz ohne Pfiffe zu lieben scheint. Merk war der einzige Verlierer des tollen Nachmittags.
Ein anderer Hauptdarsteller war Torsten Frings. Bremens Mittelfeldtraber (“Ich bin ein Aachener Junge“) lief erstmals nach zehn Jahren „endlich mal wieder auf dem Tivoli“ auf, dem Heimatstadion seiner Jugend, wo er mit prasselndem Beifall empfangen wurde. Nachher war er gewohnt maulfaul wie im Spiel lauffaul. „Du kannst nicht immer Zauberfußball erwarten“, sagte er kühl und: „Die Belastung ist einfach zu hoch geworden.“ Es war Frings‘ 25. Pflichtspiel seit der WM. Gern wäre er noch einen Abend in Aachen geblieben, bei der Familie, mit Freunden. „Geht nicht. Wir spielen ja Mittwoch schon wieder.“ Gegen Chelsea, in der Champions League.
Steven Walsh, Chefscout des FC Chelsea, fühlte sich in Aachen ebenfalls sehr schnell heimisch. Ihn beeindruckte „die extrem dichte Atmosphäre hier. So wie die Stimmung in diesem tollen engen Stadion ist es früher vielfach in England gewesen – so loud, so intense, so atmospheric“. Dann machte der Spion mit seinem Handy noch ein paar Erinnerungsfotos – von der schwarz-gelben Euphoriegemeinschaft auf den Rängen.
Der größte Hauptdarsteller für einen Moment war indes Jan Schlaudraff mit seinem wundervollen Schlenzer nach frechem Solotanz zum 2:1 – ein Aspirant für das Tor des Jahres. Schlaudraff, zuletzt wegen wesenseigener Scheinarroganz mit einer clubinternen „Denkpause“ für ein Spiel belegt, lächelte vergnügt und redete wie ein Wasserfall: „Es ging um meine Mimik, um flapsig wirken, zu viele Sprüche, um Abwinken und Körpersprache. Aber jetzt bin ich wieder sortiert.“ Schlaudraffs „Weltklassetor“ (so Bremens düpierter Keeper Tim Wiese) bestätigte das. „Wenn es Absicht war, muss er bald bei Real Madrid oder in Barcelona spielen“, so Wiese weiter. Es war wohl Absicht.
Ein Kommentar von Chelsea-Spion Walsh ist übrigens nicht überliefert. Nicht dass auf dem Tivoli bald ganz ernsthaft noch ein Interessent mehr für den umworbenen Sausewind auftaucht und in London Didier Drogba und Andrej Schewtschenko um ihre Stammplätze zittern müssen.