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Archiv-Artikel

Trauern und demonstrieren ist verboten

TÜRKEI Nach dem Unglück in Soma sprechen die Behörden von insgesamt 301 Toten, die Suche nach Vermissten wurde eingestellt. Die betroffene Stadt ist abgeriegelt, Proteste werden gewaltsam aufgelöst

ISTANBUL taz | Knapp eine Woche nach dem schlimmsten Bergwerksunglück in der Türkei sind 18 Personen festgenommen worden, darunter Führungskräfte der Betreiberfirma. Die Regierung und das Unternehmen hatten bislang darauf beharrt, dass der Unfall nicht auf Fahrlässigkeit zurückzuführen ist.

Die Suche nach vermissten Bergleuten wurde am Samstag eingestellt. Nach Angaben der Betreibergesellschaft und des türkische Energieministers Taner Yildiz seien alle Bergleute entweder gerettet oder tot geborgen worden. Die offizielle Todeszahl liegt bei 301, viele Arbeiter in Soma und die zuständige Gewerkschaft Maden Is haben jedoch große Zweifel daran.

Ein Vertreter der linken Dev Maden Is meinte am Samstag, nach Informationen von Minenarbeitern und Opferfamilien könnten bis zu 100 Männer im Schacht geblieben sein. Angehörige von Opferfamilien reden seit Freitag nicht mehr mit der Presse, weil sie von der Minengesellschaft und der Polizei unter Druck gesetzt werden. Sie haben Angst, eine in Aussicht gestellte Entschädigung zu verlieren. Proteste, die am Freitagnachmittag in Soma stattfanden, wurden von der Polizei niedergeschlagen.

Seitdem kontrollieren Polizei und Gendarmerie auch die Aus- und Einfahrten von und nach Soma. Sogenannte Provokateure, so der zuständige Polizeichef, würden nicht mehr in die Stadt gelassen. Wer damit gemeint ist, musste am Samstag eine Gruppe linker Anwälte aus Istanbul feststellen, die in Soma Angehörige von Opfern bei den bevorstehenden Verhandlungen um Entschädigungen beraten wollten. Sie wurden am Ortseingang festgehalten und, weil sie sich angeblich weigerten, sich auszuweisen, in eine abgedunkelte Lagerhalle geschleppt und verprügelt. Einer der Anwälte musste anschließend mit einem gebrochenen Arm ins Krankenhaus, die anderen mussten die Stadt verlassen.

Nicht nur in Soma versucht die Polizei, jeden Protest gegen die dreiste Haltung der Regierung, die jede Verantwortung für die Katastrophe zurückweist, zu unterdrücken. In Istanbul, Ankara, Izmir und weiteren Städten des Landes wurden Demonstrationen und andere Proteste mit dem Einsatz heftiger Polizeigewalt unterbunden. Selbst stumme Trauer ist nicht erlaubt. Als am Freitagabend im Istanbuler Stadtteil Kadiköy hunderte junge Leute eine lange Schlange bildeten, Kerzen aufstellten und sich auf die Straße setzten, schritt die Polizei ein und prügelte die Jugendlichen aus dem Weg.

JÜRGEN GOTTSCHLICH