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Archiv-Artikel

Viel zu tun beim Kinderschutz

Deutschland hinkt bei der frühkindlichen Bildungsinvestition und der Sicherung von Kinderrechten hinterher, monieren Arbeiterwohlfahrt und Kinderschutzverbände

BERLIN taz ■ Die Lage von Kindern in Deutschland macht Kinderschützern zunehmend Sorgen. Am gestrigen 17. Jahrestag der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention machten sie auf Defizite im Bildungssystem aufmerksam und forderten die verfassungsrechtliche Verankerung von Kinderrechten.

Bereits vor dem ersten Schultag teilt sich die deutsche Schülerschaft in dumm und schlau. Das ist eine Quintessenz des Sozialberichts 2006 „Chancengerechtigkeit durch und in Bildung“ der Arbeiterwohlfahrt, der gestern in Berlin vorgestellt wurde. Stefan Sell, Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialmanagement der FH Koblenz, fordert eine deutliche Aufwertung der Kitas und Grundschulen: „Hier wird die Basis gelegt, hier werden Bildungsbiografien formatiert, hier entscheiden sich Lernschicksale.“ Ins selbe Horn stößt Wilhelm Schmidt, Bundesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO): „Die Bundesrepublik investiert zu wenig in den Bereich der frühkindlichen Bildung – das ist ein Skandal.“ Statt der von der OECD geforderten Mindestinvestition von 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts investiere Deutschland in diesen Bereich lediglich 0,66 Prozent – bei sinkender Tendenz. Im internationalen Vergleich sei das deutsche Bildungssystem Spitzenreiter bei der sozialen Selektion, so Schmidt. Vorbereitet im vorschulischen Bereich, wird die soziale Spaltung spätestens nach der 4. Klasse richtig vollzogen.

In den Thinktanks der AWO hat man eine Lösung parat: An der Schnittstelle zwischen vorschulischen Angeboten und Grundschule müssten die zuständigen Ressortbereiche der Ministerien für Familie und Bildung zusammengelegt werden. Bundesvorsitzender Schmidt sagte der taz: „Ich hielte das für einen interessanten Weg.“ Weiter fordert die AWO den Ausbau der Krippenangebote, die 100-prozentige Versorgung der Drei- bis unter Sechsjährigen in Kindergärten sowie Gebührenfreiheit im letzten Kindergartenjahr.

Neben der AWO haben sich auch die Unicef, der Deutsche Kinderschutzbund und das Kinderhilfswerk gestern zu Wort gemeldet. Sie fordern, die Rechte von Kindern im Grundgesetz zu verankern. Angesichts steigender Kinderarmut und der gleichzeitigen demografischen Entwicklung hin zu einer „kindesentwöhnten Gesellschaft“ könne nur mit einem juristisch einklagbaren Anspruch das Kindeswohl bei vielen Entscheidungen in Verwaltung und Rechtsprechung gesichert werden, meint Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes.

Denn Deutschland hinkt in Sachen Kinderschutz juristisch hinterher. Zwar ist die UN-Kinderschutzkonvention seit 1992 ratifiziert, allerdings kann sich der Einzelne in Deutschland nicht direkt auf sie berufen. Auch gilt sie nur mit Vorbehalten, insbesondere im Asylrecht. So werden Jugendliche ab 16 Jahren im deutschen Asylverfahren wie Erwachsene behandelt. Spezielle Kinderrechte sind zwar in einigen Landesverfassungen in Deutschland verankert, im Grundgesetz fehlen sie aber bislang. „Tierschutz ist dort wie selbstverständlich verankert, Kinderschutz nicht“, ist Hilgers erbost. Im Gespräch mit der taz zeigte er sich jedoch zuversichtlich, dass eine prinzipielle Entscheidung für solch eine Verfassungsreform im nächsten Jahr von der großen Koalition getroffen wird. Hilgers hofft dann auf einen langfristigen Wandel zu mehr Kinderfreundlichkeit.

MARTIN LANGEDERCHRISTOPH GERKEN