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Archiv-Artikel

„Die Täter sind keine Monster“

Der angekündigte Amoklauf von Sebastian B. hätte verhindert werden können – wenn Schule, Bekannte und Eltern aufmerksamer gewesen wären. Ein Verbot von Computerspielen wie „Counterstrike“ hingegen bringt nicht viel, meint der Gewaltforscher Joachim Kersten

taz: Herr Kersten, Sebastian B. hat viel „Counterstrike“ gespielt und war offenbar internetsüchtig. Er hat sogar virtuell die Schule nachgebaut und dort seinen Amoklauf geübt. Sind virtuelle Gewaltinszenierungen der Schlüssel zu seiner Tat?

Joachim Kersten: Nicht der Schlüssel, sondern ein Element. Bei Amokläufern kommt viel zusammen. Wenn das Leben in virtuellen Welten, in denen Gewalt vorherrscht, mit Schulversagen und Waffenfetischismus zusammenkommt, wird es gefährlich. Es gibt keine einfache Kausalität.

Halten Sie die Forderung von CDU-Politikern, „Counterstrike“ zu verbieten, für sinnvoll?

Nein. Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass Egoshooter-Spiele wirklich die Gewaltbereitschaft steigern. In Japan spielen Hunderttausende „Counterstrike“, ohne dass es einen empirisch überprüfbaren Anstieg realer Gewalt zur Folge hat. Genau die gleiche Debatte gab es auch nach Erfurt schon. Man will halt gerne etwas tun. Das ist ja verständlich, aber das macht ein Verbot nicht plausibler.

Haben Computerspiele denn irgendeine Auswirkung auf Amoktaten?

Ja, eine. Es gibt eine Studie aus den USA, die gezeigt hat, dass die Treffsicherheit der Täter durch die Computerspiele enorm steigt. Wenn Sie oder ich zum Amokläufer würden – wir würden mit solchen Waffen keinen Lastwagen treffen. Wenn Sie aber täglich jahrelang Egoshooter gespielt haben, wissen Sie, wohin Sie zielen müssen, um zu töten.

Sebastian B. hatte sich wohl im Internet ein Alter Ego geschaffen, „ResistanceX“, mit dem er seine Gewaltfantasien ausagiert hat. Was bedeutet das?

Das ist nicht ungewöhnlich. Die Pubertät ist eine Zeit, in der vor allem verunsicherte junge Männer besonderes empfindlich auf Abwertungen und Demütigungen reagieren. Viele schaffen sich daher eine Fantasiewelt, in der sie die Helden sind. Bei mir war das früher Dr. Kimble aus der TV-Serie. Das ist nicht psychopathisch.

Wo beginnt das Pathologische?

Beim Schritt von der Fantasie zur Realität, konkret: der Beschaffung der Waffen.

Wenn Verbote von virtuellen Gewaltspielen nicht viel bringen – was kann man denn tun?

Genau hinschauen. Sebastian B. hat seine Tat ja 2004 schon im Internet angekündigt. Das ist bei Amokläufern nicht untypisch – in diesem Fall ist es allerdings besonders deutlich. Er hat Waffen verherrlicht, um sein geringes Selbstwertgefühl zu kompensieren. Er hat im Internet mit den Waffen posiert. Er sollte wegen verbotenen Waffenbesitzes vor Gericht erscheinen. Er war ein Schulversager und Konsument von Gewaltcomputerspielen. Es gab also viele Warnzeichen, die aber niemand wahrgenommen hat. Ich bin eigentlich sehr skeptisch, was Prävention bei Amoktätern angeht. Aber in diesem Fall gab es so viele Alarmsignale, dass man fragen muss: Warum hat das keiner bemerkt?

Wer hätte das bemerken müssen?

Vor allem das soziale Umfeld – Eltern, Schule, Bekannte, Mitschüler.

Das ist aber nur appellativ.

Nein. Ich denke, man kann das Bewusstsein dafür schärfen, dass Amoklauf eine Gefahr ist, wenn zwei, drei Elemente zusammenkommen – vor allem wenn Waffen ins Spiel kommen. Wenn also etwas strikter kontrolliert werden muss, dann nicht Computerspiele, sondern der Zugang zu Waffen. Bevor der Täter auf dem Schulhof um sich schießt, muss man ihm die Waffen wegnehmen.

Kann die Polizei mehr tun?

Ja. Wenn man Kinderpornografie im Internet verfolgen kann, dann muss es auch möglich sein, solche Amokankündigungen auf dem Radar zu haben. Sebastian B. hat sich mit den Waffen im Internet inszeniert. Er hat nicht im Keller vor dem Spiegel im Kampfanzug und mit Waffen posiert. Er wollte gesehen werden. Und: Viele wollen in diesen Tätern Monster sehen, weil sie sie dann aus ihrem Fühlen und Denken ausschließen können. Sie sind keine Monster. Sie kommen aus unserer Mitte.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE